Die Herrin des Labyrints
über einem aufgeschlagenen Buch saß und etwas geistesabwesend die schnurrende Titi kraulte. Ich sah ihm über die Schulter und entdeckte ein paar nüchterne anatomische Zeichnungen, die dazu angetan waren, einem heranwachsenden jungen Menschen jegliche Motivation zu nehmen, sich mit dem andern Geschlecht auseinanderzusetzen. Er schlug es zu, als er mich bemerkte. Ich nahm mir vor, in den nächsten Tagen mal ein vertrauliches Gespräch mit ihm zu führen.
Wir gingen auch gemeinsam in den Keller, weniger, weil der so sehenswert war, sondern weil ich Henry es überlassen wollte, die Auswahl an Getränken zu treffen. Dabei entdeckte er natürlichdas rote Kostüm, das dort in seiner Plastikhülle hing und sachte vor sich hin glitzerte.
»Oh, tanzt du wieder, Amanda?«
»Nein. Aber …«
»Aber du möchtest eigentlich, nicht wahr?«
»Auch das ist ein bisschen schwierig …« Ich zuckte mit den Schultern, denn auch diese Problematik war nicht leicht zu erklären. Aber Henry schien meine geballte Unentschlossenheit langsam auf die Nerven zu gehen, und er drehte sich mit gespielt autoritärem Blick zu mir um.
»Komm mit hoch, Amanda. Ich werde jetzt mal ein väterliches Machtwort mit dir sprechen!«
Schweigend lotste er mich aus dem Keller und schob mich ins Wohnzimmer.
»Setz dich!«
»Ja, Papa!«
»Du hast jetzt in den drei Stunden, die ich hier bin, mehrere Male eine geradezu sagenhafte Entscheidungslosigkeit an den Tag gelegt. Was du nach deinem Abschluss machen willst, weißt du nicht. Was du mit dem Erbe machen sollst, weißt du nicht. Ob du das Rätsel lösen sollst, weißt du nicht. Was für ein Verhältnis du zu Damon hast, weißt du nicht, und ob du wieder tanzen möchtest, weißt du auch nicht. Was ist los?«
»Schimpf nicht mit mir, Henry. Vor mir sind Berge von Problemen, und ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.«
»Irgendwo. Das ist das Einfachste. Ruf deine Freundin Halima an und melde dich für die Kurse an. Da steht das Telefon!«
»Ja, Papa!«
Er drückte mir den Hörer in die Hand, und ich wählte gehorsam Halimas Nummer.
»Hallo, Amanda, nett, dass du mich anrufst. Hast du meine Nachricht bekommen?«
»Ja, danke. Sowie ich die Unterlagen in der Hand habe, sehen wir, was man damit anfangen kann.«
»Ich melde mich, wenn die Papiere bei mir eingetroffen sind.«
»Ja … danke.«
»Amanda? Ist etwas nicht in Ordnung? Du hörst dich so komisch an.«
»Doch, ja. Es ist nur …«
Henry nahm mir den Hörer energisch aus der Hand und sagte: »Hallo, Halima, hier ist Henry Vanderhorst. Erinnern Sie sich am mich?«
»Aber sicher, Henry. Amandas Vater. Was ist denn los bei euch?«
»Ach, nichts Besonderes, nur meine Tochter hat etwas Schwierigkeiten damit, Ihnen zu sagen, dass sie eigentlich sehr gerne wieder tanzen würde.« Er lachte dabei leise, und diesmal nahm ich ihm den Hörer fort.
»Halima, ich habe einst sehr nette Adoptiveltern gehabt. Ein bisschen tuttelig, aber seit ich erwachsen geworden war, haben sie mich nicht mehr bevormundet. Jetzt, auf meine alten Tage habe ich meinen leiblichen Vater wiedergefunden, und der entpuppt sich als ausgemacht autoritäres Ekel.«
»Schön, dann gehorche ihm einfach und komm am Donnerstag wieder zu uns. Du weißt ja, wo du mich findest.« Auch Halima kicherte, und ich fühlte mich auf einmal ziemlich leicht.
»Na gut, wenn ihr alle darauf besteht. Wahrscheinlich hatte mir das einfach gefehlt, so überrollt zu werden.«
»Ah, schön. Wir haben einen Stocktanz eingeübt, an dem du dir die Zehennägel abbrechen wirst. Übrigens, weißt du schon das Neueste? Deine Freundin Nicole ist heute hier aufgetaucht, ganz höflich und zurückhaltend, und hat gefragt, ob sie im Anfängerkurs mitmachen darf. Hat sie eine Erleuchtung gehabt?«
»Nein, einen Auftritt mit Hindernissen. Aber verwundern tut mich das doch. Sie ist nämlich … Ach, das erzähle ich dir am Donnerstag.«
Solange Henry zuhörte, wollte ich mit Halima nicht über Hexenzirkel und Mondscheinrituale sprechen.
»Tu das. Wenn du willst, bring Henry mit. Das heißt, wenn er sich traut.«
»Du forderst aber gefährliche Mutproben, Halima! Bis dann!« Ich legte auf und musste grinsen. Einmal hatte ich erlebt, dass sich ein Mann in Halimas Studio verirrt hatte, während wir tanzten.Selten hatte ich ein so einiges Volk von Schwestern erlebt, und der arme Mensch würde vermutlich sein Lebtag lang nie wieder eine Frau anmachen. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie das war, wenn
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