Die Herrin des Labyrints
getroffen, als sie von einem Spaziergang zu ihrer Wohnung zurückgekehrt war. So weit die Nachrichten, die aus den Unterlagen hervorgingen. Das alles hatte Henry Vanderhorst nur mit sehr wenigen Worten mitgeteilt. Weder die genaueren Umstände noch seine Beziehung zu Josiane waren dabei erwähnt worden. Auch Vanderhorst schien in der Folgezeit unauffindbar gewesen zu sein. Von einer Tochter war weder in den Briefen noch in den anderen Unterlagen etwas erwähnt. Aber das musste nichts heißen. Josiane hätte ihrer Familie wohl nicht besonders gerne von einem unehelichen Kind berichtet. Vielleicht war das sogar der Grund, warum die Briefe plötzlich aufhörten.
Patrick hatte tagelang an den Unterlagen herumgedeutelt, aber außer ein paar höchst abenteuerlichen Phantasien, die irgendwo zwischen der Entführung aus dem Serail und 1001 Nacht angesiedeltlagen, war nicht viel dabei herausgekommen. Wichtigere Dinge wie etwa eine neue Graphik-Software nahmen seine Aufmerksamkeit dann wieder mehr in Anspruch.
Um einen Anfang zu machen, hatte ich mir die internationalen Zeitungsberichte über den Aufstand heraussuchen lassen, in der Hoffnung, der Tod einer Europäerin sei darin erwähnt worden. In einem unbedeutenden, englischsprachigen Kairoer Blatt gab es sogar einen Hinweis, und – was noch viel besser war – es gab einen Namen. Eine Familie Massoun wurde erwähnt, vor deren Anwesen die tödlichen Schüsse gefallen waren.
»Ein Leichtes, diese Leute ausfindig zu machen«, hatte Ulli höhnisch bemerkt, als ich von meinen Erkundigungen berichtete. »Die wohnen bestimmt noch da und erinnern sich ganz genau, was vor gut dreißig Jahren da abgegangen ist. Fahr doch einfach hin und frag sie!«
Ich hatte sogar über eine solche Reise nachgedacht, aber die Vorstellung, mich alleine und ohne Unterstützung in die Tiefen Kairos zu begeben, schreckte mich doch etwas ab. Als Nächstes sollte ich wohl mit der Botschaft Kontakt aufnehmen, um herauszufinden, ob es Möglichkeiten gab, diese Familie ausfindig zu machen. Ulli war mir in der Angelegenheit keine große Hilfe. Er sah nur die Probleme, die sich dabei ergaben. Ich sah die zwar auch, aber ich fühlte mich doch an das Versprechen gebunden, das ich Gita gegeben hatte. Oder besser gesagt, es war nicht moralische Verpflichtung alleine, sondern eine Neugier, die aus noch einer ganz anderen Quelle in mir gespeist wurde. Die Thematik der verschollenen Tochter ging mir auf ganz besondere Weise nahe. Darum setzte ich mich am nächsten Morgen an Ullis Schreibtisch in dem kleinen Raum neben unserem Schlafzimmer und begann, meine Anfrage an die verschiedenen offiziellen Stellen zu formulieren.
Doch bevor ich den ersten Brief fertig geschrieben hatte, klingelte der Postbote und bat mich, ein Paket für die Nachbarn anzunehmen. Mir drückte er unsere Postsendungen in die Hand. Viel war es nicht, die Telefonabrechnung, ein Ansichtskarte aus der Toskana und zwei Werbesendungen. Ich wollte die beiden buntenUmschläge gerade ungelesen ins Altpapier werfen, als mein Blick an dem verschnörkelten Emblem auf dem einen Couvert hängen blieb. Das war keine Wurfsendung, sondern ein an mich adressierter Brief. Ein Studio für orientalischen Tanz schickte mir sein Programm – woher die auch immer meine Anschrift hatten. Vermutlich über Kerstin, dachte ich, als ich das pinkfarbene Heftchen herauszog. Workshops in Schleiertanz, Choreographie und Trommeln wurden angeboten, Kurse für alle Leistungsklassen. Ja, da wollte Kerstin wohlmeinenden Druck ausüben. Nett gemeint, aber ich musste ja das Angebot nicht annehmen. Schon wollte ich das Programm wegwerfen, als mein Blick auf eine Zeile unterhalb des Namens fiel: »Inhaberin Halima Massoun-Kukula«.
Erst als ich mit einem tiefen Atemzug Luft holte, war mir bewusst, dass ich vergessen hatte zu atmen. Das war ja wohl mehr als ein Zufall! Aber gleich darauf musste ich über meine eigene Reaktion lachen. Vermutlich war dieser Name im arabisch sprechenden Raum ungefähr so häufig wie Meier oder Schmidt bei uns. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei Frau Halima Massoun um ein Mitglied besagter Kairoer Familie handelte, war ziemlich gering. Aber vielleicht sollte ich gelegentlich doch mal hinfahren, das Studio lag nicht weit entfernt.
Meine nüchterne Einschätzung dieses Zufalls hielt nicht besonders lange an. Die Tatsache, dass mir gerade in diesem Moment solch ein Hinweis in die Hände gefallen war, hatte mich offensichtlich tiefer beeindruckt, als
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