Die Herrin des Labyrints
und sie fragte: »Sie interessieren sich für unser Kursangebot? Haben Sie schon mal getanzt?«
»Seit gut zwei Jahren, ja.«
»Und wo?«
»Oh, in der Volkshochschule, bei Kerstin. Aber ich bin nur eine Anfängerin.«
»Nach zwei Jahren noch?« Ein spöttisches Lächeln begleitetedie Frage. »Ich habe jetzt die Mittelstufe hier. Machen Sie einfach mit. Eine Probestunde wird uns zeigen, wie weit Sie sind.«
»Eigentlich wollte ich …«
»Sie können sich ein Trikot nehmen.« Sie wies auf einen Ständer in der Ecke. »Die Mädels vergessen häufiger mal ihre Sachen. Nur keine Angst, wir beißen nicht. Ich bin Halima. Wie heißt du?«
Auf diese unkomplizierte Weise wurde ich von ihr eingefangen, ohne eine große Chance zu haben, mich zu wehren. Jetzt einfach wegzugehen erschien mir auch etwas idiotisch. Außerdem wäre es sowieso nicht möglich, mein ursprüngliches Anliegen in der Kürze der Zeit vorzubringen. Ich hätte vorher anrufen und einen Termin mit ihr ausmachen sollen.
Kurz darauf stand ich in dem hellen, luftigen Raum und sah mich in einem großen, von jeglichen Verzerrungen freien Spiegel schlängelnde Armbewegungen machen. Es war ein überraschender Anblick für mich. Das ungewohnte Trikot, das über dem Bauch transparent war, betonte meine trotz allen Pölsterchen schmal gebliebene Taille. Bislang hatte ich immer solche körpernahe Kleidung vermieden. Hin und wieder spürte ich neugierige Blicke auf mir ruhen. Man machte sich ein Bild von meinen Fähigkeiten. Einige Schrittkombinationen waren neu für mich, aber so wie Halima über die Phase des langsamen Erklärens zur Übung mit Musik überging, fielen mir auch die ungewohnten Bewegungen leicht.
»Machst du gut«, sagte meine Nachbarin, als wir ein bisschen außer Atem stehenblieben. »Ich bin die Doro, und du?«
»Ich heiße Amanda, aber das hier ist nur eine Probestunde für mich.«
»Jetzt tanzen wir unser neues Stück durch. Alle zusammen, bitte!« Halima sah zu mir hin und meinte: »Du kannst uns zuschauen, Amanda.«
Ich sah mir die Gruppe an, wie sie mehr oder minder simultan ihre Choreographie durchtanzte. So hatte das bei Kerstin bisher nie ausgesehen.
»Komm, Amanda, diesmal tanzt du mit. Versuch’s einfach irgendwie.«
Na gut, sagte ich mir, mit der Gruppe mitstolpern war ungefährlich,und stellte mich hinter diejenige, die die Schrittfolgen am besten beherrscht hatte.
Die ersten Takte ertönten, ich bemühte mich, mit den anderen zusammen wenigstens die Richtung zu halten, als es dann doch wieder passierte.
Plötzlich sah ich mich im Spiegel alleine tanzen. Sie klatschten, als das Stück zu Ende war, und ich lief dunkelrot an. Am liebsten wäre ich unter dem Fußboden verschwunden. Warum konnte ich mich nicht in Luft auflösen, warum nicht einfach verschwinden, nie da gewesen sein?
»Entschuldigung!«, stammelte ich und lief aus dem Übungsraum. Mit zitternden Fingern zog ich meine eigenen Sachen wieder an und wollte so schnell wie möglich die Flucht ergreifen. Aber als ich hinter dem Paravent hervorkam, wartete Halima schon auf mich.
»Komm mit, Amanda!«
Unendlich peinlich berührt schlich ich hinter ihr her. Wie hatte ich das nur wieder zulassen können! Seit Jahren hatte ich geglaubt, mich einigermaßen im Griff zu haben, hatte alle Situationen vermieden, wo mir solche Ausrutscher passieren konnten, und jetzt das.
»Trink einen Tee mit mir, Amanda. Du musst nicht so unglücklich darüber sein.«
»Ich wollte das nicht. Ich hasse es, mich so daneben zu benehmen.«
»Du magst nicht, dass das passiert, nehme ich an. Ist das der Grund, warum du nur Anfängerkurse besuchst?«
»Ja.«
Sie lächelte mich ein bisschen verschmitzt an und schlug vor: »Du kannst es mal mit der Meisterklasse versuchen.«
»Du liebe Zeit, bloß nicht!« Entsetzen schwang in meiner Stimme mit.
Halima lachte auf und sagte dann: »Hast du Angst, die anderen an die Wand zu tanzen?« Aber dann wurde sie wieder ernst. »Ist es so, dass du in solchen Momenten, beim Tanzen, nicht ganz bei dir bist?«
Ich zuckte nur mit den Schultern. Wie sollte ich das Gefühl beschreiben, das mich packte, wenn die Musik und der Rhythmus durch meinen Körper pulsten? Ich sah mich sozusagen von außen, stand neben mir, ohne mich steuern zu können. Es war, als ob etwas Fremdes von mir Besitz ergriff und sich durch mich bewegte.
»Amanda, du kannst das nicht unterdrücken. Es ist besser, du setzt dich damit auseinander. So wie es jetzt ist, kannst du es nicht
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