Die Herrin des Labyrints
ich mir selbst gegenüber zugeben wollte. In der Nacht hatte ich einen höchst eigenartigen Traum. Es war der erste seit langer Zeit, an den ich mich wirklich erinnerte. Natürlich wusste ich, dass alle Menschen jede Nacht träumen, aber ich maß der bunten Müllaufbereitung meiner unverdauten Tageserlebnisse keine besondere Bedeutung zu. Diesmal allerdings ging es nicht um etwas, das ich mit irgendeinem noch so flüchtigen Eindruck in Verbindung bringen konnte. Die Szene begann wie ein Alptraum. Eine bedrohliche schwarze Gestalt näherte sich mir, wurde größer und größer und warf einen lähmenden Schatten auf mich. Aber dann glitt das Schwarze von der Figur ab wie dunkles Wasser, und eine Frau in einem atemberaubendenKleid tanzte auf einer kleinen Bühne. Ihr Körper war geschmeidig, vollkommen der Musik hingegeben. Ihre Blicke neckten das Publikum und lockten. Ihre Augen versprachen viel und entzogen sich hinter langbewimperten Lidern. Die Zuschauer waren in ihrem Bann. Alle waren elegant gekleidet. Schmuck blitzte, Seide schimmerte in der rauchgeschwängerten Luft, und Champagnergläser standen auf den Tischchen. Ein Nachtclub, eine exklusive Bar mochte es sein, doch sie befand sich nicht in diesem Land und nicht in dieser Zeit. Woher ich das wusste, konnte ich nicht sagen. Viel mehr geschah auch nicht in diesem Traum, außer dass die Tänzerin wundervoll und von großer Anmut war und ihr Tanz eine tiefempfundene Sehnsucht ausdrückte.
Jedenfalls nahm ich diesen Traum als Zeichen dafür, ich könne vielleicht einen Zipfel einer Spur erwischen, wenn ich mich in das Studio 1001 begeben würde.
Die Adresse besagte, ich würde es in der Fußgängerzone der Innenstadt finden, und ich entdeckte es hoch oben über einem Einkaufszentrum. Dort betrat ich ein geschmackvoll eingerichtetes Foyer, in dem bunte Diwane zum Warten einluden. An den Wänden hingen Fotos von Tänzerinnen in klassisch-eleganten Posen, einige Zeitschriften und Programme lagen um eine Wasserpfeife herum auf dem niedrigen Tischchen. Ein paar Stellwände, von denen farbenfrohe Schleier und Münztücher hingen, verbargen den Eingang zum Umkleideraum. Glasscheiben mit halb heruntergelassenen Jalousien trennten das gemütliche Foyer vom Übungsbereich und einem Büro. Es lief gerade eine Unterrichtsstunde. Sechs oder sieben Frauen, überwiegend in schwarzen Trikots und bunten, glitzernden Hüfttüchern, bewegten sich zu der Musik, die zu mir herüberklang. Ich warf einen Blick durch die offene Tür des Nebenraums, in dem ein Schreibtisch und ein reichhaltiges und modernes DV-Equipment standen. Das Büro war leer, die Besitzerin schien selbst die Stunde zu halten. Also setzte ich mich wieder auf einen der Diwane und blätterte müßig durch die Zeitschriften. Kurz darauf ging hinter mir die Tür auf, und zwei Frauen mittleren Alters traten ein. Sie grüßten mich freundlich und begannen, sich hinter den Paravents umzuziehen.Als sie wieder in Trikots und klimpernden Münztüchern auftauchten, warfen sie mir einen fragenden Blick zu.
»Sind Sie neu hier?«
»Ja, ich wollte mir das Studio ansehen«, antwortete ich. »Ich würde mich gerne mal mit Frau Massoun unterhalten.«
»Oh, Halima unterrichtet gerade, aber in fünf Minuten sind die Mädels fertig. Wollen Sie sich nicht auch schon umziehen? Der nächste Kurs ist für die Mittelstufe.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, mitmachen wollte ich eigentlich nicht.« Weitere Teilnehmerinnen kamen herein, und der Raum füllte sich mit Geplauder und Lachen. Ich blieb weitgehend unbemerkt und beobachtete still die Frauen, die jetzt aus dem Übungsraum kamen. Welche mochte wohl Halima sein? Eine gewisse Spannung drückte auf meinen Magen. Ich war vollkommen spontan und unvorbereitet hergekommen. Was sollte ich ihr bloß sagen?
Als Letzte kam eine dunkelhaarige, große und sehr schlanke Frau heraus und rief: »In zehn Minuten geht es weiter!«
Ich stand auf und machte einen Schritt auf sie zu. »Halima, eine Dame möchte dich sprechen«, sagte jemand und wies auf mich.
Dunkle, große Augen musterten mich einen winzigen Moment, und obwohl es nur Bruchteile von Sekunden waren, bevor das professionelle Lächeln auf ihrem Gesicht erschien, fühlte ich mich gnadenlos taxiert und eingeordnet.
»Möchten Sie in mein Büro kommen?«, fragte Halima Massoun mich mit einer dunklen Stimme, die wie eine sanft gestrichene Saite vibrierte. Ich folgte ihr schweigend.
»Nehmen Sie Platz. Ein Glas Tee?«
Ich lehnte ab,
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