Die Herrin des Labyrints
voll davon hinein und trank noch einmal. Wärme und süße Ruhe breiteten sich in mir aus, ich nahm meinen Mut zusammen und tat, was sie mir geraten hatte. Ich sprang über meinen Schatten, diesen dunklen Gesellen, der sich immer wieder vor mich stellte und mir die Sicht nahm.
»Bin ich Josianes Tochter?«
»Natürlich.«
So einfach war das also.
»Du wusstest es?«
»Ich habe es geahnt an dem Tag, als du zur Tür hereinkamst, Amanda. Darum habe ich dich wahrscheinlich auch so entsetzt angesehen.«
»Sehe ich ihr so ähnlich? Ich habe ein paar Fotos gesehen, aber da schien sie ein ganz anderer Typ zu sein.«
»Sie war jünger, als du es jetzt bist, sie schminkte sich stark und hatte lange Zeit die Haare blond gefärbt. Aber eure Bewegungen sind sich so ähnlich, dass es kaum einen Zweifel gibt. Ich beobachte Körperausdruck sehr genau, wie du weißt. Aber es gibt noch eine andere Kleinigkeit, die mir als Erstes ins Auge fiel. Sag mir, seit wann hast du diese weiße Strähne in deinen Haaren?«
»Sie tauchte nach der Geburt meines Sohnes auf.«
»Siehst du, auch deine Mutter bekam nach deiner Geburt diese Strähne. Tja, und mit diesem Merkmal kamst du hier hereinspaziert und fragtest mich nach Josiane. Auch mich kann man aus der Fassung bringen, Amanda.«
»Oh, na, davon habe ich aber wenig gemerkt.«
»Mein schauspielerisches Talent. Komm, wir gehen essen. Die
Geschichte wird etwas länger.«
Sie führte mich in ein ruhiges Restaurant, wo wir eine Nische für uns hatten, und erzählte mir, woran sie sich erinnern konnte, nachdem Josiane in ihren Armen gestorben war.
»Ich habe vollkommen verrückt reagiert, Amanda. Du musst verstehen, für deine Mutter konnte ich nichts mehr tun. Dir konnte ich noch helfen. Aber ich dachte auch an mich und an meine Chance, die ich damit hatte. Es hatte sich inzwischen eine Menge von Neugierigen eingefunden. Sie heulten vor Entsetzen, riefen nach Polizei und einem Arzt. Es war ein schreckliches Durcheinander, in dem mir keiner Beachtung schenkte. Außerdem war ich von Kopf bis Fuß in meinen Schleier gehüllt. Also schnappte ich mir Josianes Handtasche, zog dich aus dem Getümmel und lief zu ihrer Wohnung. Die Schlüssel waren in der Tasche, ich kannte mich bei ihr aus. Als Erstes packte ich eine kleine Reisetasche mit ein paar von deinen Sachen und dem, was ich an Unterlagen fand. Wahrscheinlich ziemlich unsinniges Zeug, denn ich konnte ja nicht beurteilen, was davon wichtig war und was nicht. Dann nahm ich zwei weitere Koffer und packte systematisch alle ihre Abendkleider, ihren Schmuck, kleine Wertsachen, ihre Kosmetika und alles, was ich an Geld finden konnte, ein. Das war Diebstahl, ich weiß. Aber für mich bedeutete es eine einzigartige Möglichkeit, aus dem engen Käfig zu fliehen, der mich umgab.«
»Das spielt doch heute keine Rolle mehr, Halima.«
»Wahrscheinlich nicht, aber ich werde dir trotzdem alles zurückerstatten, was ich damals an mich genommen habe. In der einen oder anderen Form. Einen Teil des Schmucks besitze ich noch, einige Sachen habe ich verkaufen müssen, um meine neue Existenz aufzubauen. Aber dazu später. Erst einmal will ich über dich weiter berichten. Du hattest die ganze Zeit ruhig in einer Ecke gesessen. Wahrscheinlich warst du völlig verstört von dem ganzen Trubel. Ich zog dir die Kleider aus, auf denen Blutflecken waren, und steckte dich in frische Sachen. Dann machte ich dir ein bisschen Milch warm und gab eine Schlaftablette hinein. Als du tief und fest schlummertest, war draußen endlich Ruhe eingekehrt. Ich wickelte meine Melaya wieder um mich und rief ein Taxi. Meine Eltern hatten wenig Kontakt zu Ausländern gehabt,aber mir war bekannt, dass es in der Nähe ein Krankenhaus gab. Es wurde von einer deutschen Gesellschaft geführt. Das wusste ich, weil mir Josiane einmal von einer Behandlung dort erzählt hatte. Ich gestehe, ich war vornehmlich daran interessiert, dich loszuwerden, um endlich das in Angriff nehmen zu können, was ich vorhatte. Ich legte dich also in eine Decke gewickelt vor die Tür, ließ die Tasche mit deinen Sachen dort stehen und läutete, in der Hoffnung, es würde sich schon jemand um dich kümmern.«
»Du hast aber nie erfahren, was dann mit mir passiert ist, oder?«
»Nein. Ich hatte ausschließlich meine Ausbildung und meine Karriere als Tänzerin im Kopf. Deshalb zog ich die Melaya um mich. Eine praktische Sache, wenn man Umhang und Schleier tragen kann, aber nicht muss. Unerkannt ließ ich mich
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