Die Herrin von Avalon
»Wir hatten gewonnen!«
Sie bekam keine Antwort, und nach einer Weile beugte sie sich vor und schloß die ins Nichts starrenden Augen.
Das Kind schrie immer noch. Ohne etwas zu hören oder zu sehen, band Viviane die Nabelschnur ab und durchtrennte sie. »Bade und wickle die Kleine«, sagte sie zu Rowan.
Sie wies auf die Leiche und setzte sich unvermittelt auf die Bank. »Du mußt ein Tuch über sie legen.«
»Gütige Göttin«, sagte Rowan. »Wie sollen wir das Kind denn ernähren?«
Viviane stellte fest, daß ihr Gewand an der Vorderseite feucht war, und ihre Brüste bei dem Geschrei des Neugeborenen noch mehr schmerzten. Seufzend öffnete sie das Band am Hals und streckte die Arme aus.
Das kleine Mädchen stieß suchend ungestüm gegen ihre Brust. Viviane zuckte überrascht zusammen, als sich der weit geöffnete Mund um ihre Brustwarze schloß und die Milch einschoß. Selbst mit drei Monaten hatte ihre eigene Tochter nie so fest gesaugt. Die Kleine hustete, verschluckte sich und holte Luft, um zu schreien. Viviane gab ihr schnell wieder die Brustwarze.
»Still! Es ist nicht deine Schuld, Kleines«, flüsterte sie, obwohl sie sich gefragt hatte, was für eine Art Seele beschließen würde, sich an Samhain auf die lange Reise hinunter auf diese Welt zu begeben. Das Neugeborene hatte Igraines helle Haut und blonde Haare. Aber es war viel größer als Igraine bei ihrer Geburt. Eine Frau wie Ana hätte ein so großes Kind niemals zur Welt bringen können, selbst wenn sie noch jung gewesen wäre. Warum sollte dieses Kind leben, wenn ihr eigenes gestorben war? Vivianes Hände spannten sich unwillkürlich. Das Neugeborene wimmerte, ließ die Brust aber nicht los. Und das war vermutlich die Antwort. Viviane zwang sich, den Griff zu lockern. Das kleine Mädchen war voll Lebensgier, und das sollte auch immer so bleiben.
Andere kamen herein. Ohne wirklich zu wissen, was sie tat, beantwortete sie Fragen und gab Anweisungen. Anas Leiche wurde in Tücher gehüllt und hinausgetragen. Viviane blieb auf der Bank sitzen und hielt das schlafende Kind in den Armen. Sie rührte sich erst, als Taliesin eintrat.
Er ist seit heute morgen alt geworden , dachte sie unbestimmt.
Taliesin sah in der Tat plötzlich wie ein alter Mann aus. Sie wußte warum und ließ sich von ihm aus dem dunklen Raum in den hellen Tag hinausführen.
»Viviane muß einfach zustimmen«, sagte Claudia. »Vielleicht hätten wir Julia zur Hohepriesterin wählen können, aber sie ist auch tot. Wir haben eigentlich nie über die Nachfolge gesprochen. Ana war nicht einmal fünfzig!«
»Können wir Viviane trauen? Sie ist davongelaufen«, sagte einer der jüngeren Druiden.
»Und zurückgekommen«, erwiderte Taliesin. Er fragte sich, warum er widersprach, warum er seine Tochter, wenn Viviane seine Tochter war, zwingen sollte, die Rolle zu übernehmen, die ihre Mutter das Leben gekostet hatte. In seinen Ohren klang immer noch Anas letzter schrecklicher Aufschrei.
»Viviane entstammt der königlichen Linie von Avalon, und sie ist Priesterin«, sagte Talenon. »Natürlich werden wir sie wählen. Sie gleicht Ana sehr, und sie ist mit sechsundzwanzig Jahren alt genug. Sie wird Avalon gute Dienste leisten.«
Große Göttin, das stimmt , dachte Taliesin und erinnerte sich daran, wie schön Ana während der Schwangerschaft mit Igraine gewesen war und wie sehr Viviane ihr ähnlich gesehen hatte, als sie mit Anas Neugeborenem, der er den Namen Morgause gegeben hatte, im Arm auf der Bank saß. Sie hatte wenigstens um das Leben ihrer Mutter kämpfen können, während er still dasitzen und warten mußte, bis die Würfel des Schicksals endgültig gefallen waren. Und Viviane durfte ihre Trauer zeigen. Er konnte weder in Anspruch nehmen, die Tote sei seine Geliebte gewesen, noch er ihr Geliebter. Er durfte nur um seine Hohepriesterin trauern.
Ana , rief sein Herz, warum hast du mich so früh verlassen!
»Taliesin«, sagte Rowan. Er blickte auf und versuchte zu lächeln. Auf allen Gesichtern lagen Schrecken und Trauer. Anas Tochter war nicht die einzige, die weinte, weil ihre Mutter von ihr gegangen war. »Du mußt Viviane sagen, wie sehr wir sie brauchen. Auf dich wird sie bestimmt hören.«
Weshalb? fragte er sich. Damit die Bürde auch ihr Leben fordern kann?
Er fand Viviane im Obstgarten, wo sie das Neugeborene stillte. Vermutlich mußte sie nicht lange raten, um zu wissen, weshalb er gekommen war.
»Ich bin bereit, mich um die Kleine zu kümmern«, sagte sie
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