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Die Herrin von Avalon

Die Herrin von Avalon

Titel: Die Herrin von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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Die rituellen Beschränkungen der Wochen vor der Tagundnachtgleiche waren zwar gelockert worden, doch sie hatte sich an die Fastenspeisen gewöhnt und wollte nichts anderes essen. Aufgrund der vielen Aufregungen hatte sie an diesem Tag seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen. Und sie hatte im Morgengrauen gebadet. Ja, sie war bereit. Viviane holte tief Luft und ging auf den Gral zu.
    »Was hast du vor?« Taliesin stand in der Tür. In seinen Augen sah sie Angst.
    »Ich werde tun, was getan werden muß. Ihr seid alle viel zu unsicher, um etwas zu unternehmen. Ich sehe die Not, und ich habe das Gefühl, der Gral will helfen. Kannst du bestreiten, daß ich das Recht habe, seine Kraft zum Segen der Menschen anzuwenden?«
    »Du hast das Recht. Du bist seine Hüterin.« Taliesin mußte sich die Worte mühsam abringen. »Aber was ist, wenn dich dein Gefühl trügt?«
    »Ich setzte mein Leben aufs Spiel, und auch dazu habe ich das Recht«, erwiderte sie leise und sah, wie sich sein Gesicht verwandelte. Er wurde von etwas Größerem erfaßt. Das hatte sie schon bei Ritualen und zu bestimmten anderen Zeiten bei ihm beobachtet.
    »Wie willst du auf die andere Insel kommen?«
    »Wenn ich dorthin gehen soll, hat der Gral bestimmt die Macht, mir den Weg zu zeigen.«
    Er ließ den Kopf sinken. »So sei es. Geh zur Quelle und umschreite sie dreimal. Dabei denke an den Ort, an dem du sein möchtest. Wenn du den dritten Rundgang beendet hast, bist du dort. Ich kann es dir nicht verbieten, aber wenn du willst, werde ich dir folgen, um über dich zu wachen.«
    Viviane nickte. Als sie den Gral von seinem Platz nahm, gingen alle menschlichen Wahrnehmungen in der Verzückung durch das Mysterium unter.

    Taliesin sah, daß die Mächte von Avalon ihre Geheimnisse über die Zeiten hinweg gewahrt hatten. Die Jungfrau, die den Gral aus der Schatzkammer hinaustrug, war nicht mehr Viviane. Ihm blieb jedoch noch so viel von seinem Bewußtsein, daß er die Angst und die Ehrfurcht in ihrem ganzen Ausmaß empfand, als sie sich zwischen den Welten befanden.
    Es dauerte nicht lange, und die friedliche Nacht von Avalon wich beißendem Rauch. Das nächtliche Zirpen der Grillen wurde von den Schreien sterbender Menschen übertönt.
    Die Männer des Weißen Drachen fielen über Inis Vitrin her. Einige alleinstehende Gebäude brannten bereits lichterloh. Das kleine Volk versuchte, die Insel zu verteidigen, aber die starken sächsischen Krieger machten sie nieder wie Kinder. Von den Behausungen der Einsiedler, die sich um die alte Kirche drängten, zog sich eine Kampflinie durch den Obstgarten der Mönche bis zu den Schuppen, die sie unterhalb der Quelle errichtet hatten. Die Jungfrau erschien vor der Quelle und starrte auf das Kämpfen und Morden. Sie drückte den verhüllten Gral an die Brust. Ihr ganzer Körper schien zu schimmern. In der Tiefe des Brunnens sah sie wie eine Spiegelung ein rötliches Leuchten. Es dauerte nicht lange, bis ein Krieger sie entdeckte und etwas schrie. Die Männer des kleinen Volkes blieben zurück, aber die Sachsen rannten mit dem Ruf ›Schatz‹ wie hungrige Wölfe auf sie zu.
    Die Sachsen hatten mit Feuer angegriffen. Es war nur recht und billig, dachte Taliesin, daß sich ihnen die Macht des Wassers entgegenstellte.
    Ihr Angriffsgeheul ließ ihn erschauern, doch er blieb unbeweglich hinter der Jungfrau stehen, die den Feinden mit ruhiger Gelassenheit entgegenblickte. Als Taliesin im Feuerschein das gierige Gesicht des ersten Angreifers sah, zog sie das Tuch vom Gral.
    »Ihr Männer, die ihr Blut vergießt, seht das Blut eurer Mutter!« rief sie mit klarer Stimme und begann, das Wasser auszugießen, das sie an der Quelle in Avalon geschöpft hatte. »Männer der Gier, empfangt den Schatz, den ihr begehrt habt, und kommt zu mir!«
    Taliesin sah, wie ein Strom von gleißendem Licht alles unter sich begrub. Die Sachsen blieben wie angewurzelt stehen, als seien sie geblendet, und schrien etwas von Finsternis. Dann brach das Wasser über sie herein, und sie ertranken in den Fluten.

    In den folgenden Tagen hörte man so viele verschiedene Berichte über diesen Augenblick, wie es Menschen gab, die ihn erlebt hatten. Einige Mönche schworen, der heilige Joseph sei erschienen und habe die strahlende Phiole mit dem Blut Christi in der Hand gehalten, die er mit nach Britannien gebracht hatte. Die wenigen überlebenden Sachsen behaupteten, sie hätten die große Göttin der Unterwelt gesehen, bevor der Fluß, der die Welt

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