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Die Herrin von Avalon

Die Herrin von Avalon

Titel: Die Herrin von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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sie den Gral berührte, solange sie Angst hatte. Niemand konnte sie dazu zwingen. Sie konnte sich umdrehen, den Raum verlassen und mit der Schande leben, nicht stark genug gewesen zu sein. Doch wenn der Tod ihrem bisherigen Leben vorzuziehen war, dann hatte sie nichts zu verlieren.
    Sie blickte noch einmal auf den Gral. Ihre Gedanken hatten sich beruhigt. Ihr Blick wurde klar. Diesmal sah sie einen Kessel, in dem sich der endlose Raum mit allen seinen Sternen befand.
    Aus der Dunkelheit drang eine so leise Stimme, daß Viviane sie kaum hörte, sie aber trotzdem in ihrem Körper spürte.
    » Ich bin die Auflösung all dessen, was gewesen ist. Aus mir entspringt alles, was kommen wird. Ergreife mich, und meine dunklen Wasser werden dich mit sich reißen, denn ich bin der Opferkessel. Doch ich bin auch das Gefäß der Geburt. Aus meinen Tiefen magst du wiedergeboren werden. Tochter, wirst du zu mir kommen und meine Macht in die Welt tragen? «
    Viviane spürte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen, denn in dieser Stimme hörte sie nicht Ana, sondern die wahre Mutter, nach der sie sich immer gesehnt hatte.
    Sie hatte endlich den Punkt erreicht, an dem sich Dunkelheit und Licht die Waage halten. Langsam hob sie die Hände und griff nach dem Gral.
    Ein pulsierendes Licht, das aber weder funkelte noch strahlte, erfüllte plötzlich den unterirdischen Raum. Einer der Druiden schrie auf und lief nach draußen, ein zweiter stürzte bewußtlos zu Boden. Auf den Gesichtern der anderen lag ein kindliches Staunen. Als die Jungfrau, die nun wußte, daß sie mehr als nur Viviane war, den Gral hochhob, kannte ihre Freude keine Grenzen.
    Sie ging zwischen ihnen hindurch und stieg mit dem heiligen Gefäß in den Händen die Stufen nach oben. Gemessen schritt sie auf dem Pfad zur heiligen Quelle. Dort, wo das Wasser unablässig seinem verborgenen Ursprung entströmte, kniete sie nieder und füllte die Schale. In der Nische des Brunnenschachtes, wo die Phiole mit dem heiligen Blut lag, das Vater Joseph der Obhut der Priesterinnen übergeben hatte, stellte sich das Leuchten ebenfalls ein. Das Wasser entströmte der heiligen Quelle weiterhin rein und klar, doch es färbte nun die Steine blutrot. Als Viviane den Gral bis zum Rand gefüllt hochnahm, begann er, in einem rosigen Leuchten zu pulsieren.
    Das geheimnisvolle Licht war wie eine Morgendämmerung um Mitternacht, während sie den Pfad weiter hinabging, der zum Ufer führte. Dort hob sie den Gral noch einmal hoch und goß seinen Inhalt in einem glänzenden Strahl in das größere Wasser. In ihrer veränderten Sicht trug das Wasser der Quelle das Leuchten mit sich, das sich in winzigen Partikeln verteilte, bis alles opalisierend schimmerte. Viviane wußte, nicht nur in Avalon, sondern in allen Welten würde alles, was dieses Wasser berührte, an seiner Kraft teilhaben.

    In Viviane hinterließ das Ritual des Grals einen tiefen Frieden. Durch die Welt draußen zogen jedoch immer noch die Sachsen. Als Samhain näherrückte und die Dunkelheit früher herein brach, kam eines Tages bei Sonnenuntergang eine Novizin eilig vom Ufer herauf. Sie brachte die Nachricht, daß sich ein Boot nähere. Es wurde von Heron gerudert, einem Mann des kleinen Volkes, der die Beschwörung kannte, die es ihm ermöglichte, die Nebel zu durchqueren. Im Boot saß ein Mann, der seiner Kleidung nach einer der Mönche von Inis Vitrin war.
    Das Boot lief auf Grund, Heron ließ seinen Fahrgast, dem er die Augen verbunden hatte, am Heck sitzen und watete durch das seichte Wasser ans Ufer.
    »Vater Fortunatus!« rief Viviane und eilte an Ana vorbei, die sie verblüfft ansah. Aber es war keine Zeit, Fragen zu stellen.
    »Heron, warum hast du diesen Fremden ohne meine Erlaubnis hierhergebracht?«
    Die Stimme der Hohepriesterin war wie eine Peitsche, unter deren Schlag der Mann auf die Knie sank. Er verneigte sich so tief, daß seine Stirn die Erde berührte. Der Mönch drehte sich auf seinem Platz um, als könne er mit den Ohren sehen. Seine Hände waren nicht gefesselt, doch Viviane sah, daß er keine Anstalten machte, das Tuch von seinen Augen zu nehmen.
    »Herrin, ich bringe ihn, damit er für mich spricht! Die Wölfe ... « Er schüttelte den Kopf und verstummte zitternd.
    »Er spricht von den Sachsen«, sagte Fortunatus plötzlich. »Sie haben Lindinis eingenommen und kommen jetzt hierher. Herons Dorf am Südufer des Sees steht bereits in Flammen. Die Bewohner haben in unserer Abtei Zuflucht gesucht, doch wenn

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