Die Herrin von Avalon
zu atmen, als Julia ihr das Neugeborene in die Arme legte. Unter dem Blut war seine Haut rosig. Der daunige Flaum der Haare schimmerte goldblond. Es war kein Feenkind, sondern ein Kind der Sonne aus der Linie der Könige.
Elen fragte, wie das Kind heißen soll.
»Igraine ... « murmelte Ana. »Ihr Name ist Igraine.«
Wie als Antwort schlug das Neugeborene die Augen auf, und Viviane hatte es sofort ins Herz geschlossen. Der unbestimmte blaue Blick weckte plötzlich das Gesicht in ihr. Sie sah eine schöne junge Frau. Es war Igraine, ihre erwachsene Schwester. Sie hielt selbst ein Kind auf dem Arm. Es war ein kräftiger Junge, aber im nächsten Augenblick ritt er mit dem Schwert von Avalon als Held in die Schlacht.
»Ihr Name ist Igraine ... « Anas Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Sie wird den zur Welt bringen, der Britannien gegen alle seine Feinde verteidigen soll ... «
Taliesin saß in der großen Versammlungshalle am Feuer und spielte Harfe. Er hatte in diesem Frühjahr häufig gespielt. Die Priester und Priesterinnen lächelten, wenn sie ihn hörten, und sagten, der Barde verleihe der Freude aller Ausdruck, damit sie nicht hinter den Zugvögeln zurückstehen müßten, die mit dem wärmeren Wetter in die Marschen gekommen waren. Dann nickte Taliesin, lächelte ebenfalls und spielte weiter. Er hoffte jedoch, die anderen würden nicht sehen, daß das Lächeln nicht aus seinem Herzen kam.
Er hätte glücklich sein sollen. Er war der Vater einer gesunden kleinen Tochter, auch wenn er das nicht behaupten durfte. Am wichtigsten von allem, Ana erholte sich von der schweren Geburt.
Doch die Hohepriesterin kam nur langsam wieder zu Kräften. Sie hatte bei der Geburt nicht geschrien, wie manche Frauen es tun, aber er hatte nahe genug an der Tür gesessen, um die Schmerzenslaute zu hören, die sie während der Wehen ausstieß. Damals hatte er nicht nur gespielt, um die Frauen im Zimmer aufzuheitern, sondern auch, um den Schmerz zu übertönen. Was dachten sich Männer eigentlich, ihren Frauen jedes Jahr ein Kind zu machen? Wie konnte ein Mann es ertragen zu wissen, daß seine geliebte Frau ihr Leben aufs Spiel setzte, um das Kind aus ihrem Leib zu pressen, für das er verantwortlich war?
Vielleicht liebten diese Männer ihre Frauen nicht so sehr wie er die Herrin von Avalon. Vermutlich hatten sie nicht die geschärften Sinne eines Druiden, die es Taliesin ermöglichten, ihre Qualen zu teilen.
Seine Fingerspitzen waren beim Spielen blutig geworden, als er versucht hatte, eine Wand aus Musik gegen die Schmerzen zu errichten.
Jetzt aber hatte er neues Leid. Er erinnerte sich nur schwach an Vivianes Geburt - damals hatten ihn seine üblichen Pflichten in Anspruch genommen. Außerdem war es für die Herrin eine leichtere Geburt gewesen, und er hatte nicht mit Sicherheit gewußt, daß sie sein Kind war. Doch wer immer sie gezeugt haben mochte, inzwischen hatte Taliesin Viviane als seine Tochter angenommen, und Ana hatte endlich die Erlaubnis zu ihrer Einweihung erteilt.
Taliesin fühlte sich zerrissen wie nie zuvor. Viviane stand eine schwere Prüfung bevor. Die Göttin würde sie zu diesem Anlaß nicht nur als Priesterin bestätigen, sondern auch als Nachfolgerin von Ana. Aber die Göttin hatte viele Gesichter. SIE konnte Viviane auch ins Verderben führen. Sollte er seine Tochter tatenlos ihrem Schicksal überlassen?
Deshalb spielte er. Die große Harfe beklagte die Dinge, die vergehen. Das Leid seines Liedes erhob sich über das Tal, denn er wußte, auch wenn Viviane zurückkam, würde sie nicht mehr dieselbe sein. Der Schmerz und die namenlose Angst verwandelten sich in den Klängen der Musik zur Harmonie anderer Welten.
Viviane ging am Ufer entlang und blickte über das Wasser auf den steil aufragenden Tor. Wenn etwas notwendig gewesen wäre, um sie davon zu überzeugen, daß sie sich nicht mehr in der Welt befand, in der sie die vergangenen fünf Jahre verbracht hatte, dann wäre es der Anblick gewesen, der sich ihr bot. Anstelle des vertrauten Rings der Steine sah sie auf der Kuppe einen halbfertigen Turm. Wie man ihr gesagt hatte, war er einem Gott namens Michael geweiht, den die Mönche allerdings Angelos nannten. Er war ein Herr des Lichts, den die Christen anriefen, damit er die Drachenkraft der Erdgöttin bekämpfe, die einst im Hügel gewohnt hatte.
Und noch wohnt , dachte Viviane. Sie lebt und wirkt in Avalon .
Doch ganz gleich, welche Absichten die Erbauer haben mochten, der phallische
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