Die Herrin von Avalon
hätten. Einatmen und ausatmen - sie wiederholte den Vorgang und zählte dabei, während sich ihr Bewußtsein nach innen richtete und sie begann, in einem zeitlosen Frieden zu ruhen.
Als ihr Bewußtsein nur noch den einen Gedanken an Rückkehr hatte, atmete Viviane langsam ein und lenkte ihr Bewußtsein nach unten, tief in die Erde. Im Gegensatz zu dem festen Gestein auf dem Tor war es hier im Marschland, als dringe sie in Wasser ein, in eine schwer bestimmbare, flüssige Substanz, auf der sie sich treiben lassen mußte. Die Tiefen mochten instabil sein, doch sie waren gleichzeitig eine Quelle der Kraft. Viviane saugte diese Kraft durch die Wurzeln ein, die ihr Geist geschlagen hatte, und zog sie in einem belebendem Strom nach oben, der wie eine Fontäne aus ihrem Kopf himmelwärts schoß. Im ersten Hochgefühl glaubte sie, ihre Seele löse sich vom Körper, doch Reaktionen, die instinktiv geworden waren, zogen die Energie zurück nach unten und lenkten sie über das Gesicht, die Brüste, den Bauch wieder in die Erde. Noch einmal kreiste die Kraft nach oben. Viviane stand auf und hob die Arme, um sich dem Göttlichen ganz zu überlassen. Allmählich wurde der Strom zu einer Schwingung, zu einer Säule, die von der Erde zum Himmel reichte. Sie, die Priesterin, war nicht mehr als der Kanal dazwischen.
Ihre Arme senkten und hoben sich im langsamen Rhythmus. Mit ihnen breitete sich ihr Geist soweit aus, bis er alles auf der horizontalen Ebene umfaßte. Sie nahm mit ihrem inneren Auge die Dinge um sich herum als Schattierungen von Licht wahr - das Wasser und das Marschland, die Wiesen bis hin zu den Hügeln und zum Meer. Die Nebel zogen wie Schleier über ihre Wahrnehmung. Sie waren kühl auf der Haut, prickelten jedoch vor Kraft. Ohne die Augen zu öffnen, wandte sie sich der undurchdringlichen Wand langsam zu und legte ihre Sehnsucht in einen stummen Ruf.
Die Nebel wälzten sich wie das endlose Meer als graue Woge um graue Woge heran, und sie verschluckten die Wiesen, die Marschen und das Ufer, bis Viviane das einzige lebende Wesen auf der Welt zu sein schien. Sie öffnete die Augen, aber es änderte sich kaum etwas. Der Boden war ein etwas dunklerer Schatten zu ihren Füßen, das Wasser eine leichte Bewegung vor ihr. Sie tastete sich vorwärts, bis schwach die Umrisse des Kahns auftauchten. Die Nebel schienen ihm nicht nur die Farbe, sondern auch die Substanz entzogen zu haben.
Doch das Boot wirkte für ihre veränderten Sinne zuverlässig genug. Als sie hineinstieg und sich mit der Stange abstieß, spürte sie die vertraute schnelle Bewegung, mit der es sich vom Ufer löste. Nach wenigen Augenblicken war das dunkle Ufer verschwunden. Ihr blieb nicht einmal mehr die feste Erde als Anhaltspunkt, und ihre menschlichen Augen sahen kein Ziel. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Sie konnte bis zum Morgengrauen sitzenbleiben, wenn der Wind vom Land die Nebel vertreiben würde, oder sie konnte durch die Nebelwand hindurch den Weg nach Avalon suchen.
Aus den Tiefen ihrer Erinnerung rief sie sich die Worte der Beschwörung ins Bewußtsein. Sie hatte gelernt, daß sie für jeden, der sie benutzte, etwas anders waren. Manchmal schienen sie sich sogar mit jeder Beschwörung zu verändern. Die Worte selbst waren nicht wichtig, sondern die Wirklichkeiten, zu denen sie der Schlüssel waren. Es genügte deshalb nicht, sie einfach auszusprechen - die Worte waren nur ein Auslöser, eine Hilfe, um die Verwandlung im Bewußtsein in Gang zu setzen.
Viviane dachte an einen Berg, den sie einmal gesehen hatte. In einem bestimmten Licht wurde er zur Gestalt einer schlafenden Göttin. Sie dachte an den Gral. Er war ein schlichter Becher, bis man ihn mit dem geistigen Auge betrachtete. Was waren Nebel, wenn sie nicht Nebel waren? Was war die Grenze zwischen den Welten in Wirklichkeit?
Es gibt keine Grenze ...
Dieser Gedanke drang plötzlich in ihr Bewußtsein. »Was sind ›Nebel‹?«
Es gibt keinen Nebel ... Nebel sind nur Illusionen .
Viviane überlegte. Wenn Nebel nur Illusionen waren, was war dann das Land, das sie verbargen?
War Avalon ein Trugbild oder war die Insel der Christen nicht real? Vielleicht existierten beide außerhalb ihres Bewußtseins nicht. Aber was war in diesem Falle das Ich, das sie erfand?
Gedanken folgten Illusionen auf einer endlosen Spirale der Nicht-Vernunft nach unten und verloren mit jeder Windung an Klarheit, als immer mehr Grenzen fielen, die für Menschen eine Wirklichkeit darstellen.
Es gibt kein Ich
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