Die Herrin von Avalon
...
Der Gedanke, der ›Viviane‹ gewesen war, verlor sich bei der Berührung mit der Auflösung im Nichts. Eine aufflackernde Erkenntnis verriet ihr, daß sie vor der Dunkelheit stand, in der Anara ertrunken war.
Ist das die Antwort? Überhaupt nichts existiert? Nichts ... und ... alles!
»Wer bist du?« rief Vivianes Bewußtsein.
Dein Ich ...
Ihr ›Ich‹ war ›Nichts‹ - oder nur ein flackernder Punkt kurz vor dem Erlöschen. Und dann - im selben Augenblick oder davor oder danach, denn hier gab es keine Zeit - wurde es das EINE, ein Strahlen, das alle Wirklichkeiten erfüllte. Einen ewigen Augenblick lang wurde sie Teil dieser Ekstase. Plötzlich fiel sie wie ein Blatt, das nicht leicht genug ist, um im Wind zu treiben, nach unten, nach innen und fügte von neuem alles zusammen, was verlorengegangen war.
Die Viviane, die in ihren Körper zurückkehrte, war jedoch nicht ganz die Viviane, die sich aufgelöst hatte. Als sie sich neu definierte, kam ihre Stimme wieder, und sie sang die steigenden und fallenden Silben der Beschwörung. Gleichzeitig beschrieb sie die Welt von neuem, gab ihr Worte, Sprache und Bewußtsein. Sie gab der Welt einen Namen.
Schon bevor die Nebel begannen, sich zu teilen, wußte sie, was sie getan hatte. Es war wie in jenem Augenblick, als sie einmal aus einem dichten Wald herausgekommen war. Sie glaubte, in die falsche Richtung zu gehen, und dann, zwischen einem Schritt und dem nächsten, hatte sie eine Verschiebung in ihrem Kopf gespürt und gewußt, welchen Weg sie nehmen mußte.
Als Viviane sich später darüber wunderte, daß sie erfolgreich gewesen war, wo Anara versagt hatte, sagte sie sich, vielleicht habe der fünf Jahre dauernde Kampf mit ihrer Mutter sie gezwungen, ein Ich zu entwickeln, das sogar die Berührung mit dem Nichts ertrug. Damit sie sich jedoch nicht zu großartig vorkam, erinnerte sie sich daran, daß manche Novizinnen die Prüfung nicht überlebten, weil sie der Göttin bereits so nahe waren, daß ihre Seelen spurlos in IHR aufgingen, so wie ein Wassertropfen eins mit dem Meer wird.
Die Ekstase dieser Entgrenzung war immer noch nahe genug, daß in Vivianes Augen Tränen standen, als sie nachließ. Mit plötzlicher Qual erinnerte sie sich an die Tränenflut, als ihre Mutter sie mit ihrem Ziehvater von der heiligen Insel geschickt hatte. Bis jetzt hatte sie die Erinnerung an diesen Tag unterdrückt.
»Göttin ... laß mich nicht allein!« flüsterte sie, und wie ein Echo kam die innere Erkenntnis.
ICH habe dich nie verlassen.
ICH werde dich nie verlassen.
Solange das Leben dauert,
und darüber hinaus, bin ICH da!
Das innere Licht schwand, doch die Nebel hatten sich in ein helles Schimmern verwandelt. Im nächsten Augenblick wurde Viviane von strahlendem Sonnenschein geblendet.
Sie blinzelte, und es dauerte eine Weile, bis sie vom Wasser aus die vertrauten Gebäude und das leuchtend grüne Gras auf dem Tor sah. Sie lachte befreit bei dem vertrauten Anblick. Es gab in allen Welten nichts Schöneres als Avalon.
Jemand rief ihr etwas zu. Sie legte die Hand über die Augen und erkannte Taliesins blonde Haare. Ihr Blick suchte den Hang nach ihrer Mutter ab. Als sie die Herrin nicht sah, spannte sich ihr Körper in Erwartung der altbekannten Qual. Taliesin hatte wahrscheinlich seit sie gegangen war, Ausschau nach ihr gehalten. War es ihrer Mutter wirklich gleichgültig, ob ihre Tochter die Prüfung bestanden hatte oder nicht?
Doch dann schwand ihre Niedergeschlagenheit. Sie wußte plötzlich, Ana zeigte sich bewußt nicht, weil sie weder sich noch einem anderen eingestehen wollte, wie viel ihr daran lag, daß ihre Tochter die Nebel geteilt und den Weg zurück nach Hause gefunden hatte.
21. Kapitel
»Hoch! Fivi, nimm mich hoch !« Igraine streckte die molligen Ärmchen aus, und Viviane setzte sie sich lachend auf die Schultern. Sie hatten dieses Spiel auf dem ganzen Weg durch den Garten gespielt. Die Kleine wollte zuerst herunter, um ihre Umgebung aus der Nähe zu erkunden, und dann wieder hoch, damit sie einen besseren Überblick hatte.
»Ach, bist du schwer! Ich glaube, es ist Zeit, daß Fivi dich auf den Boden stellt, solange sie noch einen Rücken hat!«
Die vierjährige Igraine war schon beinahe halb so groß wie Viviane. Es bestand wirklich kein Zweifel daran, daß sie Taliesins Tochter war. Das kleine Mädchen hatte blonde Haare mit einem rötlichen Schimmer und das tiefe Blau der Augen des Vaters.
Igraine jubelte vor Vergnügen und rannte hinter
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