Die Herrlichkeit des Lebens
ist, im Abstand all der vielen Kilometer, die sie voneinander trennen. Wäre der Vater hier, müsste er wahrscheinlich auf der Stelle verstummen, aber bislang ist es Dora gelungen, sie von der weiten Reise abzuhalten. Schließlich ist er nicht allein, es gibt Leute, die sich kümmern, in Prag hätte er es gewiss nicht besser. Wäre der Vater zufrieden mit ihm als Sterbendem? Er würde ihn loben, glaubt er, allenfalls unzufrieden mit dem Tempo, denn der Vater ist ein reizbarer Mensch, vor allem mit dem Doktor hat er seit jeher schnell die Geduld verloren, nicht selten zu Recht. Der Vater würde ihm auf die Schulter klopfen und sagen: Schon als Kind warst du nicht allzu flink, aber diesmal bin ich guter Dinge, um dann wie immer von einer Sekunde auf die andere ins Gegenteil zu verfallen. So lange dauert das? Du lässt dir Zeit, wie man es von dir ja kennt, aber es ist nicht recht, die Leute warten, wie lange, um Himmels willen, willst du die Leute noch warten lassen.
Dora ist nicht anzumerken, wie sie darüber denkt. Sie lässt ihn kaum aus den Augen, selbst wenn er schläft, denn er schläft sehr viel, auf dem Balkon im Stuhl, im Bett, ohne große Reue. Ist er wach, erfasst ihn mitunter eine große Sehnsucht nach ihrem Körper, er denkt an Berlin, wenn sie bei ihm lag, an Müritz in der Pension, als sie ihn gefragt hat: Willst du? Er sieht ihren Mund,Hals und Schultern, unter ihrem Kleid das Fleisch, die Stellen, die er vor hundert Jahren berührt hat und noch immer berühren könnte. Heute Abend ist es besonders schlimm, und siehe, sie scheint es bemerkt zu haben, es ist noch so, dass sie etwas aneinander finden. Wäre all das anders, wenn sie verheiratet wären? Sie tasten nach ihrem Fleisch, oder was immer man an einem anderen ertastet; sie wecken es ein wenig auf, nicht wahr, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist. Liebster, sagt sie, obwohl nicht völlig sicher ist, dass sie das sagt, aber sie ist hier, sie liegt wie Ottla halb über seinem Bett, und es rührt ihn fast zu Tränen, wie zart und jung sie ist. Es ist lange her, dass er über sie und sich geweint hat. Sie sind sehr still, alles ist erfüllt von ihrem Trost, denkt er, ihrer Wahrheit, falls es das gibt, denn nie fühlte er sich dieser Wahrheit so nahe.
Die Eltern haben per Express eine Karte geschrieben. Offenbar hat sich Dora beschwert, dass man so wenig hört, was bei ihren regelmäßigen Ausflügen nicht erstaunlich ist. Das Wetter in Prag ist das allerprächtigste, man geht spazieren und gibt sich den unterschiedlichsten Trinkvergnügungen hin, die ihn mit einem gewissen Neid erfüllen. Die halbe Stadt scheint auf den Beinen zu sein. Man sitzt am Fluss oder weiter oben in den Hügeln, die er alle kennt und nun noch einmal Revue passieren lässt, die Nachmittage in irgendwelchen Wassern, die eine oder andere Bootsfahrt. Jetzt, da er die Stadt für immer verlassen hat, betrachtet er sie mit einem neuen Gefallen, wie er selbst vor Jahren Mailand oder Paris betrachtet hat, mit dem ersten Blick, der eine Art Blindheit ist, ein vertrauensvolles Eintauchen, vor der ersten Erfahrung. Ist es mit Menschen nicht ebenso? Der Anfang gleicht immer einem Zauber, man sieht nur lockende Fremde, überallist Pracht, weshalb man kleine Irrtümer in Kauf zu nehmen bereit ist. Aber was heißt schon Irrtümer? Ist nicht alles Weg? Führt nicht ein jeder zum Ziel? Hier, durch die hübsche Gasse möchte ich noch gehen. Sie führt leicht bergauf, man weiß nicht genau, wo man ist, aber dann, auf halber Höhe, sagen wir, unter dem Hradschin, ist die Aussicht überwältigend.
Die meiste Zeit wartet er, auf die zweite Fahne aus Berlin, über deren Eintreffen er im ersten Moment fast erschrickt. Aber dann bereitet es ihm doch noch einmal Freude, Satz für Satz zu lesen, was er geschrieben hat, diesmal weniger überrascht, weil der Eindruck frisch ist, auf alle möglichen Winzigkeiten konzentriert. Es bleibt erstaunlich, wie viel man jedes Mal vergisst. Man hat mit praktisch jedem Satz gerungen, und trotzdem erinnert man sich allenfalls an die großen Linien, hie und da an ein Detail, das geblieben ist und aus irgendwelchen Gründen leuchtet.
Er hat mit Robert über das Ende gesprochen, ob es Hilfe für die letzten Stunden gibt, damit es keine Qual wird. Dora ist einkaufen gegangen, deshalb können sie sich in Ruhe beraten, auf einem Zettel stehen die bekannten Alternativen. Vor dem Verhungern fürchtet er sich am wenigsten, denn darin hat er gewissermaßen
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