Die Herrlichkeit des Lebens
während er die meiste Zeit schläft. Stunde um Stunde sitzt sie da, wie erstarrt, wie im Inneren der Zeit, die rein und leer ist. Bitte nicht, sagt sie. Hab keine Angst. Ich bin da. Hört er sie überhaupt noch? Irgendwann kann Robert nicht länger zusehen und schickt sie auf die Post, was sie anfangs nicht will. In der ersten Morgensonne geht sie widerstrebend hin, Schritt für Schritt wie ein Automat. Sie gibt die letzten Briefe auf. Die Pause tut ihr gut, sie könnte noch etwas gehen, aber da rennt ihr schon der Hilfsarzt entgegen. Er scheint zu winken und gibt ihr Zeichen, und dann hört sie ihn rufen, kommen Sie schnell, der Doktor. Obwohl sie höchstens eine halbe Stunde fort war, hat sich Franz in ihrer Abwesenheit stark verändert, er wirkt irgendwiegeschrumpft, als wäre er nur noch zur Hälfte da. Aber er ist wach, er lächelt, er nickt, bevor er vor Erschöpfung die Augen schließt. Gegen Mittag in ihren Armen stirbt er. Es ist seltsam, dass man es auf der Stelle weiß, womöglich ging ja der Atem nur besonders flach, trotzdem weiß sie es. Robert ist gekommen, dazu der Hilfsarzt. Sie bleibt eine Weile liegen, behält ihn im Arm, wie ein Kind, will sie fast denken, obwohl es doch ihr Mann ist. Endlich steht sie auf und deckt ihn zu, mit einem vagen Gefühl des Abschieds, wie damals auf dem Bahnsteig mit Max, als er nicht ins Abteil wollte. Später beginnt sie ihn zu waschen. Robert hat sie aus dem Zimmer geführt und Kaffee gebracht, aber jetzt möchte sie zurück und wäscht ihn, mit einer neuen Aufmerksamkeit, Körper und Gesicht, all die geliebten Stellen. Darüber vergeht der Nachmittag. Robert hat mit Prag telefoniert, er fragt, ob er ihr etwas helfen kann, und das kann er. Zu Franz sagt sie: Ist es dir auch recht? Sie ziehen ihm frische Wäsche an, den dunklen Anzug, den er lange nicht getragen hat, und erst dann ist sie so etwas wie zufrieden. Essen will sie nicht. Robert hat ihr ein Mittel gegeben, sie sitzen eine Weile zusammen und besprechen die nächsten Schritte. Für Robert ist es keine Frage, dass sie ihn nach Prag bringen. Mein Gott, ja, sagt sie, denn nun kommt sie also nach Prag, Franz ist tot, und sie fährt mit ihm in das verfluchte Prag.
In der ersten Nacht, in der sie kaum schlafen, sagen sie sich wieder und wieder, dass sie es gewusst haben. Sie haben Abschied genommen, aber ist der Schrecken darum kleiner? Sie sind nicht mehr, was sie waren, sagen sie, wie Kinder, die man ausgesetzt hat, draußen und drinnen ist es kalt, obwohl es doch Sommer ist, ein heller, gleißender Tag folgt dem anderen. Robert möchte, dass sie endlich schläft, nur weil er verspricht, nachher mit ihr zu Franzzu gehen, lässt sie sich überreden. Als sie erwacht, weiß sie lange nicht, wo sie ist, im ersten Moment glaubt sie, in Berlin, bevor ihr alles wieder einfällt. Sie hat von Berlin geträumt, wie sie in der Wohnung in der Heidestraße auf Franz gewartet hat. Sie braucht eine Ewigkeit, bis sie wach ist, es gibt Kaffee, bevor sie aufs Neue zu Franz gehen. Aber ist das noch Franz? Wenn man ihn berührt, meint man zu frösteln, sein Gesicht wirkt sehr streng und unnahbar, sie wagt ihn lange nicht zu küssen. Sie möchte ein paar Sachen als Erinnerung und nimmt seinen Schlafrock an sich, die Notizhefte, seine Haarbürste. Frau Hoffmann hat gesagt, dass sie ihn nachher holen und in eine Halle auf dem Friedhof bringen, deshalb versucht sie ihm noch einmal zu sagen, was es für sie bedeutet hat, von Anfang an. Aber es ist schwer, mit einem Toten zu reden, er hört nicht richtig zu, und so gibt sie die Sache auf. Besuch haben sie leider auch. Karl und der Onkel sind angereist, es gibt unschöne Szenen, mitten in ihrem Unglück, denn der Onkel möchte eine Beerdigung in Kierling, während Dora auf Prag besteht, sodass die Angelegenheit endlich durch ein Telegramm des Vaters entschieden werden muss; maßgebend seien allein die Wünsche Doras.
Die nächsten Tage gehen so hin. In der Halle wird er ihr schnell fremder und fremder. Sie weint, weil sie ihn nicht mehr kennt, und dann noch einmal, als sie den Sarg schließen und ihn für immer von ihr wegnehmen. Für die Überführung sind tausend Formalitäten zu erledigen, Robert muss mehrfach aufs Amt wegen der Papiere, aber am Ende hat er sie beisammen, und es kommt der Tag, dass sie sich verabschieden und in den Zug steigen, in dem irgendwo auch Franz ist. Über eine Woche nach seinem Tod treffen sie in Prag ein. Sie lernt seine Eltern kennen. Die drei Schwestern
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