Die Herrlichkeit des Lebens
schönsten findet sie, wenn sie beide im Zimmer sind und jeder für sich beschäftigt ist, denn das erinnert sie an Berlin, die Abende, an denen er in ihrem Beisein geschrieben hat. Alles war still und dicht, irgendwie fromm und zugleich leicht, wie er da saß und schrieb, mit gebeugtem Rücken am Schreibtisch, in den ersten Wochen, als sie sich vor seiner Arbeit fast fürchtete. Aus Prag ist ein Belegexemplar seiner Mäusegeschichte eingetroffen. Franz hat ihr die Zeitung gezeigt, aber jetzt hat sie angefangen zu lesen, weil auch Robert gelesen hat und wissen will, was sie darüber denkt. Von den Mäusen hatte Franz ja erzählt. War das in Berlin oder schon von Prag aus? Wenn sie ehrlich ist, möchte sie die Geschichte nicht lesen, weniger wegen der Mäuse, sondern weil sie sich fürchtet, vor einer Wahrheit, auf die sie nicht vorbereitet ist, über sie und ihn, wie damals in der Maulwurfsgeschichte, obwohl sie dort nur am Rande vorgekommen ist. Als Fleisch. Als etwas, das man sich nimmt, bei Gelegenheit. Wenn man Hunger hat. Das hat ihr damals gefallen, mit einem gewissen Erschrecken, dass die Wahrheit so einfach ist. Ist sie das? Die neue Geschichte ist zum Glück völlig anders, viel zarter, ist ihr Eindruck, mit einem leisen Spott gegenüber Josefine, in der sie ohne große Mühe Franz erkennt. Von ihr selbst gibt es diesmal keine Spur, aber das ist nicht schlimm und dann leider umso mehr, denn am Ende ist er schrecklich allein, er schreibt von seinem Tod und was von ihm bleibt außer ein paar Erinnerungen. Es ist das Schrecklichste, was sie je gelesen hat. Zum Glück ist niemand in der Nähe, es ist lange nach elf, und so sitzt sie nur da und blickt in eine ferne farblose Zukunft, wenn es ihn nicht mehr gibt, mein Gott, oder sie selbst, falls man das denken kann, mit dem unabweisbaren Gefühl, wie vergeblich alles ist.
Franz schläft jetzt viel, mitten am Tag in der Sonne auf dem Balkon, als wäre er längst an Orten, die sie als Außenstehende niemals erreichen kann. Heute, beim Frühstück, hat er sie gebeten, noch einmal an die Eltern zu schreiben, Robert gebe sich redlich Mühe, aber für die Eltern sei er doch ein Fremder, der vielleicht nicht immer den rechten Ton treffe. Viel zu berichten gibt es allerdings nicht. Man kann nur beruhigen und darüber nachsinnen, wie anders alles wäre, wenn die Eltern sie einmal besucht und gesehen hätten, wie schön und gut Franz hier aufgehoben ist. Soll sie schreiben, dass er mehr und mehr zum Kind wird? Das Komische ist, dass er selbst davon anfängt. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er so lange nicht geschrieben hat, aber das komme daher, dass er sich wie immer von jeglicher Form von Mühe und Arbeit fernhalte, höchstens das Essen sei ein wenig anstrengender, als es das stille Saugen damals gewesen sein mag. Das erste Mal überhaupt wendet er sich an den Vater. Er zählt auf, was er am häufigsten trinkt, Bier und Wein, Doppelmalz-Schwechater und Adriaperle , von welcher letzterer er jetzt zu Tokayer übergegangen sei, freilich in so geringen Mengen, dass es dem Vater nicht gefallen würde und ihm selbst auch nicht. Sei der Vater übrigens nicht als Soldat in dieser Gegend gewesen? Kennt er auch den Heurigen aus eigener Erfahrung? Er habe große Lust, ihn einmal mit dem Vater in einigen ordentlichen großen Zügen zu trinken, denn wenn auch die Trinkfähigkeit nicht sehr groß sei, an Durst gebe er es niemandem nach.
Schon seit Tagen hat er einen unangenehmen Darmkatarrh, er kann kaum mehr trinken, geschweige denn essen, sodass Robert und Dr. Glas bereits über künstliche Nahrung nachdenken. Er erhält täglich zwei Alkoholinjektionen, doch der Erfolg ist dürftig, das Fieber und derDurst wollen kein Ende nehmen. Er beginnt, sich zu verabschieden, schreibt eine lange Karte an Max, die sie am Nachmittag zur Post bringt. Leb wohl, hat er geschrieben, Dank für alles. Wieder und wieder muss sie denken, dass das Ende nah ist, und dennoch ist der Gedanke jedes Mal neu und unfassbar. Auch Frau Hoffmann hört nicht auf zu drängen, es ist nicht mehr viel Zeit, beeilen Sie sich. Sie bespricht sich am Telefon mit Ottla, doch es kommt nicht viel dabei heraus, Ottla kann vor Kummer kaum sprechen, trotzdem redet sie ihr schwach und hilflos zu. Auch Robert hat sich schon in diese Richtung geäußert. Aber dann sitzt sie bei Franz und sieht, wie er weiter hofft, und bringt es nicht übers Herz, ihn zu fragen.
Fast auf jedem Zettel redet er jetzt vom Trinken. Man
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