Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
beschämende Konfrontation zwischen dem König und seinem Sohn miterleben. Kein Drache würde den Zorn des Königs riskieren, indem er zusah. Also richteten sich die Köpfe der meisten auf das, was vor der Halle zu sehen war. Der Sturm hatte sie erreicht, und Regen begann auf den Marmorboden zu fallen. Erleuchtet von den noch immer fernen Blitzen, konnte man Bodiel kaum noch sehen, als er eine Meile entfernt tief über den Baumkronen flog, während er das Laub nach Hinweisen auf seine Beute absuchte.
Dann faltete Bodiel die Schwingen ein und tauchte in den Wald ab, so rasch wie ein Pfeil, der auf sein Ziel zuschoss.
Blitze flackerten erneut, jetzt sehr viel näher, und blendeten Jandra. Der Donner ließ sie zusammenzucken. Vendevorex zog sie fester an sich. Als sie wieder klarer sehen konnte, war Bodiel verschwunden.
»Oh!«, rief Königin Tanthia. »Oh, nein!«
»Was ist, meine Liebe?«, fragte Albekizan. »Bricht unser rebellischer Sohn dir das Herz?«
»Es sind die Schatten«, sagte Tanthia zitternd. »Die Schatten in diesem Raum sind so dunkel geworden. Ich spüre ihre Kühle in meiner Seele.«
Albekizan kehrte Shandrazel den Rücken zu und sah Tanthia an. »Es gibt keinen Grund zur Sorge«, sagte er ruhig.
Als hätten seine Worte es bewirkt, wurde es still. Der Donner verklang, und der Wind drehte sich, brachte den Regen für einen Moment zum Schweigen. In diesem Augenblick stieg ein düsteres, gequältes Heulen aus dem fernen Wald auf. Blitze flackerten, und Donner spülte die Stimme hinweg. Der Wind drehte erneut, schlug mit einem schroffen Stoß kalten Regens gegen die Halle und brachte die Flammen der Fackeln dazu, wild zu tanzen. Tanthia schnappte nach Luft, als eine der Fackeln ausging, eine Seele, die nun für immer verloren war.
»Er ist tot!«, rief Tanthia. »Mein Sohn ist tot!«
»Nein«, sagte Albekizan und sah in den Sturm hinaus. »Kein Mensch könnte … könnte …«
Der König verstummte, dann drehte er sich um und hastete an seinem rebellischen Sohn vorbei. Er sprang in den Regen hoch, fing den Wind ein und stieg empor. Shandrazel wartete einen Moment, starrte seinem Vater nach, dann warf er einen Blick auf seine Mutter.
»Finde ihn«, sagte Tanthia. »Bitte, finde ihn.«
Shandrazel nickte. Er ging zur offenen Seite der Halle und schlug mit den Schwingen, um sich in die Nacht zu erheben.
Vendevorex packte Jandra an den Schultern und flüsterte: »Wir sollten gehen. Der König könnte meine Unterstützung benötigen. Es ist am besten, wenn du in unseren Unterkünften wartest. Ich werde dich dorthin bringen.«
Jandra nickte. Vendevorex warf eine Prise silbrigen Staubs in die Luft. Das Geflüster der versammelten Menge verriet Jandra, dass er sie beide gerade unsichtbar gemacht hatte. Während sie leise aus der großen Halle verschwanden, warf Jandra einen Blick über die Schulter und sah, wie Shandrazel im Regen verblasste.
Shandrazel hasste es, im Regen zu fliegen. Er mochte das Wasser in seinen Augen nicht und verabscheute die Art und Weise, wie der Wind sich tückisch verlagerte und unter seinen Schwingen verschwand. Aber die Pflicht trieb ihn voran, die Pflicht und die Liebe. Trotz ihrer Auseinandersetzungen liebte er seinen Vater und schätzte er seinen jüngeren Bruder. Er hoffte inständig, dass keinem von ihnen etwas zustieß. Die einzige echte Gefahr, die er sich vorstellen konnte, bestand darin, dass Bodiel plötzlich in einen Abwind geraten sein könnte. Aber selbst dann würde der Zusammenprall nicht tödlich sein, da er so dicht über den Bäumen geflogen war. Wenn Bodiel bei der Verfolgung von Cron hinabgetaucht war, was hätte der Sklave ihm wohl antun können? Trotz der Begeisterung seines Vaters für die Jagd auf Menschen sah Shandrazel darin kaum
mehr Herausforderung als in dem Appetit seiner Mutter auf weiße Kätzchen. Ein unbewaffneter Mensch war ein kleinzahniges, klauenloses Etwas. Gewiss war Bodiel in Sicherheit.
Während der Auseinandersetzung mit seinem Vater hatte Shandrazel nicht gesehen, wohin sein Bruder geflogen war. Er hatte keine Ahnung, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Er blinzelte durch den Regen, versuchte, das Gewirr der Baumkronen zu erkennen, die unter ihm vorbeirauschten. Die zerbrochenen Enden von Zweigen erregten seine Aufmerksamkeit. Da war eine Lücke im Walddach. Shandrazel ließ sich auf eine kleine Lichtung herunter, auf der er seinen Vater fand.
Ein erschlagener Drache hing in der Krümmung eines Baumes. Es war ein
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