Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Ungarn-Feldzug angesichts der Überzahl russischer Soldaten erfolgreich verlief, offenbarte er die veraltete militärische Ausrüstung. Im Wettbewerb mit dem Westen hatte Nikolai nie auf Wirtschaft und Technologie gesetzt. Auch in der Industrie und Logistik konnte Russland nicht Schritt halten. Dieses Versäumnis sollte sich im Krim-Krieg rächen. Es war der letzte Akt einer Regentschaft, in der reaktionäre Entwicklungen den Boden bereiteten für die Revolutionen von 1905 und 1917.
Der Krim-Krieg entzündete sich 1853 an religiösen Konflikten. Seine Ursachen aber lagen im Zerfall des Osmanischen Reiches und in Russlands Wunsch, sein Einflussgebiet auszuweiten. Der Konflikt mit Türken, Briten und Franzosen endete 1856 nach Nikolais Tod. Veraltete Waffen, verpasste Reformen und fehlende Transportmittel führten zur russischen Niederlage. Zwar konnte die Marine noch 1853 die osmanische Flotte bei Sinope besiegen, aber mit dem Eintritt der anglofranzösischen Seestreitkräfte wendete sich das Blatt. Die Alliierten verfügten über mehr dampfgetriebene Kriegsschiffe, die russische Flotte bestand hingegen zum großen Teil noch aus Holzschiffen und war nicht hochseetüchtig. Während in Europa bereits schneller feuernde Infanteriewaffen im Einsatz waren, kämpfte die russische Armee noch mit Steinschlossmusketen aus den Napoleonischen Kriegen. Verheerend war die schwache Logistik. Um 1850 hatte Russland nur etwa 800 Kilometer an Eisenbahnstrecken, verglichen mit 13600 in den Vereinigten Staaten. Da es südlich von Moskau kein Schienennetz gab, mussten Pferde Nachschubwagen Hunderte von Kilometern durch Steppenlandschaften ziehen, »die während des Tauwetters im Frühjahr und des Regens im Herbst Matschseen waren«, schreibt der britische Historiker Paul Kennedy.
Etwa 480000 Russen fielen im Krieg, ein immenser Verlust an Menschen. »Wir können uns nicht länger betrügen«, erklärte einer von Nikolais Söhnen, Großfürst Konstantin, »wir sind sowohl schwächer als auch ärmer als die erstrangigen Mächte, nicht nur an materiellen, sondern auch an geistigen Ressourcen.« Diese Erkenntnis wird den Weg für Reformen öffnen. Nikolai erlebt dies nicht mehr. Am 2. März 1855 stirbt er nach 30 Jahren Alleinherrschaft. Seinem Thronfolger Alexander II. hinterlässt er ein rückständiges Reich und einen verlorenen Krieg. »Ich werde in den Himmel auffahren, um für Russland zu beten. Diene du Russland!«, hat er angeblich seinem Sohn auf dem Sterbebett gesagt. Bis zum Schluss hielt Nikolai an seinem Credo fest. Blind für die geistigen Bedürfnisse seiner Zeit schuf er, wohl ohne es zu ahnen, die Voraussetzungen für künftige Revolutionen. Die sollten über das, was die Dekabristen 1825 versucht hatten, weit hinausgehen.
Die Ehre des Poeten
Russlands größter Dichter Alexander Puschkin liebte und verfocht die Freiheit als romantischer Bohemien.
Von Johannes Saltzwedel
Nicht einmal umkleiden durfte er sich. Sofort nach der Ankunft in Moskau, müde und zerschlagen von tagelanger Eilreise, sollte Alexander Puschkin vor seinen neuen obersten Dienstherrn treten. Momentan residierte Zar Nikolai I. im geräumigen Tschudow-Kloster innerhalb des Kreml. Dorthin brachte ein Feldjäger den erschöpften Vers-Virtuosen, und bald stand er dem Herrscher gegenüber. Unterschiedlicher hätten die beiden Männer kaum sein können: hier der erst 30-jährige, vorsichtig-wohlwollende, penibel ordentliche Monarch, souverän vorwiegend auf dem Papier; dort der 27-jährige Feuerkopf, der nach sechs unfreiwillig in der Ferne verbrachten Jahren endlich wieder seine Geburtsstadt betreten durfte. Hier ein von kulturellen Feinheiten wenig berührter Bürokrat, Erbe und Bewahrer absoluter Macht; dort ein Bohemien und Freigeist, der mit umstürzlerisch tönenden Reden oder Spottversen auf Vorgesetzte immer wieder die Obrigkeit gereizt hatte.
Für Puschkin war die Audienz zunächst ein Lichtblick. Schon hoffte er für sich und seine Heimat auf die Lockerung der strengen Überwachung. »Dumm und unberechenbar« seien die Zensoren, selbst »die unschuldigsten Sachen« beargwöhnten sie, klagte aus leidvoller Erfahrung der Verfasser von »Ruslan und Ljudmila«, »Die Zigeuner« und der auf der Krim spielenden tragischen Romanze »Die Fontäne von Bachtschissarai«. »Gut, dann werde ich dich von der allgemeinen Zensur befreien. Schicke mir alles, was du schreibst. Ich werde selbst dein Zensor sein«, soll Nikolai erwidert haben. Wie ernst der Zar es
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