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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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verspottete Adlige witterten Gelegenheit zur Revanche. Mehrfach wollte der wütende Poet sich mit angeblichen Verleumdern duellieren, was sich zum Glück verhindern ließ. Obendrein brachte ihn das ehrgeizige Projekt einer literarischen Zeitschrift in Rage: »Die russische Literatur zu säubern heißt Toiletten putzen und von der Polizei abhängig sein ... Der Teufel hat mir einfallen lassen, in Russland geboren zu werden mit einer Seele und mit Talent!« Wenigstens wollte er seine Ehre retten. Als Anfang November 1836 ein anonymer Brief eintraf, der ihn als Gehörnten bloßzustellen drohte, glaubte Puschkin den Urheber zu kennen. Trotz aller Versuche, ein Duell zu verhindern, eskalierten die Beleidigungen. Am Spätnachmittag des 8. Februar 1837 richteten die beiden Widersacher ihre Pistolen aufeinander; schon der erste Schuss traf den Dichter so schwer, dass er nach zwei Tagen Todesqual starb. Wer wirklich hinter der Intrige steckte, darüber rätseln Forscher noch immer – gerade weil Puschkins erstaunliche Sprachkunst längst allen Zarenglanz überstrahlt hat.

Träume von einer besseren Welt
    Zensur und drohende Strafen hinderten
Dichter und politische Denker nicht daran, die
despotische Zarenherrschaft anzuprangern.
    Von Rainer Traub
    Z wei Ereignisse, deren Echo lang nachhallte, prägten das russische Reich im frühen 19. Jahrhundert. Das erste war der Triumph über Napoleon. Als der bis dahin für unbesiegbar gehaltene Imperator sich im Winter 1812 mit dem erbärmlichen Rest seiner Grande Armée aus Russland rettete, blickte Europa mit einem Gemisch aus Bewunderung und Schrecken auf den bärenstarken Koloss im Osten: Unübersehbar hatte sich das Zarenreich als Bollwerk des Ancien Régime etabliert. Das zweite Ereignis war der Aufstand der Dekabristen, größtenteils adlige Offiziere, im Dezember 1825. Teils Republikaner, teils konstitutionelle Monarchisten, erhoben sie sich gegen Autokratie und Zensur und prangerten die Versklavung und Leibeigenschaft der bäuerlichen Bevölkerung an. Erstmals waren Angehörige des gebildeten, privilegierten Standes, in dem das Regime seine Stütze sah, der Kontrolle entglitten: ein unerhörter Vorgang.
    Der Umsturzversuch war schnell niedergeschlagen und wurde drakonisch bestraft. Doch die Empörung gegen Tyrannei, Ungeist und Menschenverachtung wirkte auf Russlands Dichter und Denker wie ein Fanfarenstoß; über viele Generationen blieb er im Gedächtnis. Zu den Verschwörern zählten junge Dichter wie Kondratij Rylejew, der für seine Ideale am Galgen bezahlte, und der deutschstämmige Wilhelm Küchelbecker, dessen Todesurteil in Festungshaft umgewandelt wurde. Beide waren mit Russlands großem Poeten Alexander Puschkin befreundet. Wenngleich der quecksilbrige Genius, bei allem Zorn über Despotie und Zensur, zum Verschwörer nicht taugte, standen Schriftsteller nun prinzipiell unter Subversionsverdacht.
    Auf scheinbar paradoxe Weise hatte gerade der nationale Triumph über Napoleon zur Rebellion der russischen Elite geführt. Auf den Spuren des fliehenden Feindes waren Zar Alexander I. und seine Truppen 1814 bis nach Paris gelangt; das adlige Offizierskorps traf auf eine lebendige Zivilisation mit Volksrechten, wie sie Russland nicht kannte. Hier brodelten neue Ideen wie die frühsozialistischen Projekte des Grafen Henri de Saint-Simon, während auf dem Zarenreich bleischwer der Stillstand lastete. Vielen der Sieger ging jetzt ein Licht über die heimischen Zustände auf. Aus Debattenrunden wurden allmählich Geheimbünde. Gut ein Jahrzehnt lang schwelte die Unzufriedenheit – 1825 explodierte sie im Aufstand. Die nun erst recht freiheits- und geistfeindliche Herrschaft von Alexanders Bruder und Nachfolger Nikolai I. war vom Dekabristen-Trauma des Regimes geprägt. Russland wurde 1826 in sieben Gendarmerie-Kreise mit je einem Gendarmerie-General an der Spitze eingeteilt. Nachrichten aus Westeuropa durften nur mit Erlaubnis der zuständigen Zensurbehörde veröffentlicht werden. Ein Spitzelnetz durchzog das Land.
    Nikolais Minister für Volksaufklärung Sergej Uwarow erklärte Absolutismus und Leibeigenschaft zu Dogmen der offiziellen »politischen Religion«. Er werde erst »ruhig schlafen« können, verkündete Uwarow, wenn die russische Literatur überhaupt aufhöre zu existieren. Sogar ein erzkonservativer Denker wie Joseph de Maistre, der als royalistisch-katholischer Feind der Französischen Revolution Zuflucht in St. Petersburg gefunden hatte, gruselte sich:

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