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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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»Russland ist wie eine gefrorene Leiche, die furchtbar stinken wird, wenn sie auftaut.«

    Nikolai Gogol
    (Gemälde von Fjodor Moller, 1841)
    ULLSTEIN BILD
    Zwei spektakuläre Kulturereignisse signalisierten im Jahr 1836, dass dieser Prozess einzusetzen begann. Das eine war die Komödie »Der Revisor« von Nikolai Gogol (1809 bis 1852). Der Autor entstammte, wie so viele russische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, einer Gutsbesitzerfamilie. In jungen Jahren war er aus seiner ukrainischen Heimat nach St. Petersburg gekommen. Schnell machte er sich, gefördert vom zehn Jahre älteren Puschkin, einen literarischen Namen. Mit einer Mischung aus Realismus und Groteske schuf Gogol einen Stil, der die Wirklichkeit unter Nikolai I. auf unwiderstehliche Art dem Gelächter preisgab. Der Revisor ist ein durchreisender Zufallsgast in einem Provinznest, der irrtümlich für einen verdeckt recherchierenden Inspektor aus der Hauptstadt gehalten und deshalb von allen Seiten hofiert und bestochen wird. Gogol stellte, auch wenn er nicht die Monarchie direkt angriff, Korruption und Zensur, Servilität nach oben und Brutalität nach unten mit unwiderstehlicher Komik bloß. Selbstverständlich verbot der Theaterzensor die Aufführung umgehend. Aber Gogol hatte einflussreiche Fürsprecher und glänzte im literarischen Milieu der Hauptstadt als Vorleser der Komödie, was die Neugier des Zaren weckte.
    Bei Russlands damals berühmtesten Dichtern Puschkin und Gogol drückte er schon mal ein Auge zu. Ein Graf wurde mit der Rezitation des »Revisor« im Winterpalast beauftragt. Nikolai amüsierte sich köstlich – er befahl die Aufhebung des Zensururteils und die Inszenierung des Stücks. Im Hochgefühl unantastbarer Macht ließ er sich vom Dramatiker vorführen: »Alle haben etwas abgekriegt und ich am meisten«, lobte er die Premiere. Das höfische Publikum dagegen sah sich und seinesgleichen bloßgestellt und schäumte vor Wut. Auch für Nikolai war der Spaß vorbei, als ihm kurz darauf ein Essay unter die Augen kam, der seinem Russland in der Zeitschrift »Teleskop« ein vernichtendes Zeugnis ausstellte – ein Zensurversagen ohnegleichen. Der »Erste Philosophische Brief« des Pjotr Tschaadajew (1794 bis 1856) beschrieb »toten Stillstand«. Im Gegensatz zu Europas katholischen Ländern habe das »von diesen Völkern tiefverachtete Byzanz« das »verhängnisvolle Schicksal« Russlands geprägt. Das Zarenreich habe »durch nichts an dem Fortschritt der menschlichen Vernunft mitgewirkt, kein nützlicher Gedanke ist dem unfruchtbaren Boden unserer Heimat entsprossen. In unserem Blut ist etwas, das jedem wahren Fortschritt feind ist«.

    Leo Tolstoi
    (Porträtaufnahme, um 1901)
    AKG-IMAGES
    Eine größere Provokation war für den Herrscher aller Reußen nicht denkbar. Autor Tschaadajew wurde für wahnsinnig erklärt. Der unglückliche Rektor der Moskauer Universität, der als Zensor den Skandaltext hatte passieren lassen, wurde ohne Pension in Schimpf und Schande entlassen, der »Teleskop« verboten, dessen Herausgeber verbannt. Tschaadajew war als junger Offizier mit den russischen Truppen nach Paris gelangt. Er wurde früh Freimaurer und hatte sich unter dem Einfluss von de Maistre einer katholisch-christlichen Einheitsidee verschrieben. Mit seiner antizaristischen Lobrede auf das fortgeschrittene Abendland erzürnte er nicht nur die sture Obrigkeit: Er elektrisierte und polarisierte die klügeren Köpfe.
    Hier nahm eine geistesgeschichtliche Debatte ihren Ausgang, die Russlands literarische und philosophische Elite noch im 20. Jahrhundert in zwei Lager spalten sollte: westlich orientierte Reformanhänger gegen nationalfromme Traditionalisten. Den »Westlern«, die im Gefolge Tschaadajews dem alten Russland jede Reformfähigkeit absprachen, traten wenig später die »Slawophilen« entgegen: Statt Kritizismus und Rationalismus propagierten sie die geoffenbarte Wahrheit des orthodoxen Glaubens, statt eines westlichen Individualismus die russisch-patriarchalische Ordnung. »Dort Unruhe des Parteigeistes – hier Unerschütterlichkeit der Grundüberzeugung«, erwiderte der Slawophile Iwan Kirejewski dem Westler Tschaadajew.
    Die denkenden Zeitgenossen riss Tschaadajews philosophisch-politische Fundamentalkritik aus der verordneten Starre wie »ein Schuss in finsterer Nacht«. Der Ausdruck stammt von Alexander Herzen (1812 bis 1870), einem der bedeutendsten literarisch-politischen Schriftsteller des Reichs. Als Sohn eines russischen

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