Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Manifest von 1826. Der Polizeistaat sicherte dem Land nach den Unruhen der Napoleonischen Kriege zwar eine Phase der Stabilität, bedeutete aber auch Stagnation. Während sich Europa technisch entwickelte und die Eisenbahnlinien zügig ausgebaut wurden, ging es im Zarenreich nur langsam vorwärts.
Das veraltete Wirtschaftssystem basierte weiterhin auf dem Elend der Leibeigenen. Russland war Europas Schlusslicht. Als ein Erfolg seiner Regentschaft erwies sich allerdings die »Gesetzessammlung des Russischen Reiches« vom Januar 1833, die mit wenigen Auslassungen die Gesetze erstmals systematisch erfasste. Das Sammelwerk galt, wie der amerikanische Historiker W. Bruce Lincoln betont, fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch als eine der wichtigsten Errungenschaften vor den großen Reformen seines Nachfolgers Alexander II.
Obwohl Nikolai mehr als jeder andere Herrscher vor ihm durch sein Reich reiste, hatte er ein unrealistisches Bild von der russischen Wirklichkeit. Alle wichtigen Beamten wussten, dass der Landesvater am liebsten positive Nachrichten hörte. Die wichtigen Debatten der Zeit fanden im Untergrund statt. Allein die Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slawophilen zeugte vom enormen Diskussionsbedarf, dem Nikolais Polizeistaat keine Plattform bot – nicht zuletzt deshalb, weil er die Intelligenzija zeitlebens mit den Dekabristen in Verbindung brachte. Auf verantwortliche Posten hob Nikolai Männer, die sich nicht durch Kompetenz auszeichneten, sondern durch militärische Erfolge und unbedingte Loyalität. Eng verbunden fühlte er sich seiner Gattin Alexandra Fjodorowna, geborene Charlotte von Preußen. Die Tochter von König Friedrich Wilhelm III. , mit der Nikolai sieben Kinder hatte, teilte die Begeisterung ihres Mannes für militärische Paraden.
Orthodoxie, Autokratie und Volkstümlichkeit lauteten die Maximen seiner Staatsideologie, die Nikolais Minister für Volksaufklärung, Sergej Uwarow, 1833 zur »Dreieinigkeit« erhob. Während in Europa die industrielle Entwicklung voranschritt und sich bürgerliche Kultur herausbildete, verharrte Russland in einem absolutistischen System. Außenpolitisch erwarb sich der Kaiser den Ruf eines Gendarmen Europas, indem er etwa 1831 den Aufstand in Polen niederschlug oder den Habsburgern 1849 im Ungarn-Feldzug mit seinen Truppen zur Hilfe kam. Doch im Gegensatz zu seiner Großmutter Katharina II. und seinem Bruder Alexander I. , die Russland als Teil Europas betrachteten, hielt Nikolai sein Reich für einzigartig und dem Westen überlegen. Um jeden Preis wollte er es vom übrigen Europa abschirmen, das ihm nach wie vor als Brutstätte für staatsgefährdende Revolten galt.
1848 begann für Nikolai das schwerste Jahr seit Beginn seiner Regentschaft: Im Innern wüteten Cholera-Epidemie und Hungersnot, im Ausland die Revolutionen. Aufstände in Russlands westlichen Grenzgebieten konnte Nikolai erfolgreich unterdrücken, im Zarenreich bestand keine Gefahr eines Umsturzes. Trotzdem fürchtete der reaktionäre Herrscher das Gespenst der Revolution nun mehr denn je. Aus Angst terrorisierte er sein eigenes Volk. Von einem »wahren Hexensabbat der Reaktion« schrieb der Russland-Kenner und erste tschechoslowakische Staatspräsident Tomáš G. Masaryk. Symptomatisch für das tyrannische Gebaren des Zaren war seine Reaktion auf einen Ministerbericht, der mit dem Wort Fortschritt endete: »Fortschritt? Was für ein Fortschritt? Dieses Wort aus der offiziellen Sprache ausmerzen.«
Seine letzten sieben Jahre auf dem Thron waren düster. Die Staatspolizei verstärkte die Überwachung, der Zensurterror erreichte absurde Ausmaße. Tabu waren jetzt nicht nur die Werke von Platon und Tacitus, sondern auch die Briefe seiner Großmutter Katharina an den Aufklärer Voltaire. In diese Zeit fiel auch die Zerschlagung des Petraschweskij-Kreises kritischer Intellektueller. Nikolai ließ 21 junge Männer zum Tode verurteilen, unter ihnen auch den Schriftsteller Fjodor Dostojewski, und inszenierte eine Hinrichtung, um sie in letzter Minute zu begnadigen.
Als 1848 zwischen den ungarischen Aufständischen und den Habsburgern der Krieg ausbrach, erbat der österreichische Kaiser Franz Joseph seine Hilfe. Der Zar spielte noch einmal den Gendarmen Europas, schickte seine Truppen nach Ungarn und rettete die Habsburger Monarchie. Den wankenden Vielvölkerstaat sollte Russland sich schon wenige Jahrzehnte später unter der Flagge des Panslawismus zum Feind machen. Auch wenn der
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