Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)
deiner Ankunft hat dich dein Vater in Beschlag genommen, wir Zwei haben noch nichts voneinander gehabt.“
„Das holen wir jetzt nach“, gab er nett zurück, wobei er ihr die Wolldecke wieder von den Schultern nahm, die er ihr nach ihrem Eintreten gegen die bis dahin hier herrschende Kälte fürsorglich umgelegt hatte, und bereits während er sich dann zu ihren Füssen auf ein Schaffsfell niederließ, richtete er eine Frage an sie: „Ethne, wie spricht man dich eigentlich richtig an? Offiziell, meine ich. Chlodwig muss das wissen, weil er doch mal hier auf unsere Druidenschule kommt, und da weiß er nicht, ob er dich mit Hohe Priesterin oder Druidin anzusprechen hat.“
„Das ist doch gleich, Waldur, richte ihm aus, dass beides richtig ist. Die Bezeichnung Druide stammt aus dem Nordischen und ist bei uns heute ebenfalls gebräuchlich.“
„Gut, werde ich ihm weitergeben. - Ich möchte nur wissen, warum es so viele Sprachen gibt.“
„Bestimmt nicht, um euch Schüler damit zu ärgern.“
„Ethne!“ Er stieß ihr gegen das Knie und verlangte eine richtige Antwort.
„Schön“, lächelte sie, „ich will dir das darlegen.“ Nun geriet in ihre blassblauen Augen wieder dieser seherische Ausdruck, den er so gut an ihr kannte, und sie begann: „Vor urdenklich langer Zeit, als wir Menschen noch riesenhaft, monströs und kaum unserer heutigen fünf Sinne mächtig waren, verständigten wir uns gedanklich miteinander. Richtiger ausgedrückt, wir teilten einander mit Gedankenkraft bildhaft unsere Gefühle und Wünsche mit, genau, wie du das noch heute in deinen Träumen machst und ähnlich, wie du dich mit Tieren und Naturgeistern verständigst. Ein Vorläufer der Telepathie. Erst gegen Ende der Atlantiszeit, die dann mit der Sintflut ihren Abschluss fand, erwachte langsam unser Verstand und mit ihm das Bestreben, uns nunmehr einander akustisch mitzuteilen. So ersannen und gebrauchten wir zunächst einfache Worte, verloren jedoch zwangsläufig die Fähigkeit der bildhaften Gedankenübertragung. Dazumal wandelten noch unzählige Propheten, Heilsmenschen, unter uns, und die verhalfen uns zu einer ausgewogenen Sprechweise. Mit unserem zunehmenden Verstand schlich sich jedoch Spitzfindigkeit ein, unweigerlich gefolgt von Misstrauen und Lüge, und daraus entstand letztendlich die Sprachenzersplitterung.“
Diese Aussage irritierte Waldur: „Demnach haben wir uns ja zum Nachteil entwickelt“, folgerte er, wozu sie ihm erklärte:
„Was die Spitzfindigkeit mit all ihren Folgen anbelangt, gewiss. Und dennoch lag ein Sinn, sogar ein Vorteil darin. Überlege, wie sollten wir denn beispielsweise, ohne die Lüge kennen gelernt zu haben, dazu befähigt worden sein, wahr von unwahr zu unterscheiden? Und wie sonst könnten wir uns heute wissentlich von der Lüge ab- und dem Wahren zuwenden? Das aber ist die Voraussetzung, um eines Tages die eine große Wahrheit, die Essenz einer jeden größeren Religion, begreifen zu können. Doch darüber erfährst du später auf der Druidenschule noch bedeutend mehr.“
Waldur wunderte sich nicht zum ersten Mal, dass Ethne andere Glaubensrichtungen ebenso hoch schätzte wie die heidnische, und er fragte sich, ob ihr das in ihrer Ausbildung vom Oberpriester so beigebracht worden sei. Ja, die Druiden waren weise. Das verdankten sie nicht alleine ihrer rund zwanzigjährigen Ausbildung, denn sie mussten bereits einen hohen seelisch-geistigen Entwicklungsgrad aufweisen, um zu diesem Studium im Externtempel überhaupt aufgenommen zu werden. In jenem Tempel wurden sie dann tief in das seit jeher mündlich überlieferte Eddawissen - verwandt mit den indischen Veden - und somit in die Geheimnisse der Schöpfung eingeweiht, darüber hinaus lernten sie mit den höheren Naturkräften umzugehen. In der zweiten Ausbildungshälfte spezialisierte sich jeder noch zusätzlich auf ein Fachgebiet, wie die Heil- oder eine Naturkunde oder auf die Lehrtätigkeit, zu der sich auch Ethne, die Leiterin der Frowanger Druidenschule, entschlossen hatte.
„Bist ja völlig abgetreten“, wandte sie sich jetzt an Waldur, zupfte ihm an der Stirnlocke, die sich immer so eigenwillig aus seinem dicken Blondhaar herausrollte, und forderte ihn auf: „Los, kleiner Bruder, jetzt bist du mit Erzählen dran. Gefällt es dir in deinem neuen Zuhause?“
Darauf leuchtete sein sympathisches, seit gestern vierzehnjähriges Jünglingsgesicht auf: „Und ob, Ethne, genau wie Hilibrand. Wir leben dort wie Söhne des Hauses.“
Nun berichtete
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