Die Hexe soll brennen
jetzt: »Du willst gestehen. Das ist gut. Der Heiland ist dir gnädig. – Fangt mit den Fragen an, Monhaim …«
***
Die Litaneien jagten sich in Katharinas Schädel, verfolgten sie Tag und Nacht, ließen ihr keine Ruhe mehr. Manchmal bäumte sich jetzt etwas in ihr dagegen auf, wollte diese endlos hämmernden Stimmen endlich abstellen, doch das war nicht möglich. Die Stimmen hatten sich selbständig gemacht, schmetterten auf Katharina ein, berannten sie, belagerten sie, zerrissen sie.
Nur dann, wenn die Zwölfjährige sich wiegte, wurde es ein wenig besser. Dann ging manchmal das Meerestosen in ihrem Kopf zu dumpferem Brandungsrauschen zurück, ebbte zu einem Drängen ab, das zögernder kam. Doch für diese kurzfristigen Erlösungen mußte Katharina bezahlen: Zu der alten entzündeten Wunde an ihrem linken Schulterblatt hatten sich andere gesellt. Das Wiegen half nur, wenn ihr Körper gegen den Stein der Kerkermauer stieß. Katharinas ganzer Oberkörper war jetzt zerschunden, so sehr hatte sie bezahlt, um die Litaneien zu ertragen. Wenn sie sich wiegte, dann tat sie dies gedankenlos. Sie konnte schon lange nicht mehr denken. Sie kannte nur noch den quälenden Fluß der Litaneien, die sich in ihrem Schädel ballten, aus irgendeinem Gefängnis ausgebrochen waren; dazu die körperlichen Schmerzen, die jene anderen ersetzten. Die Zwölfjährige war zu einem Bündel dumpfen seelischen Dahintreibens geworden, und doch konnte sie immer noch menschlich empfinden.
Zuerst hatte Katharina gar nicht bemerkt, daß sie jetzt allein im Verlies war, daß sie die andere abgeholt hatten. Aber dann drang dieses Bewußtsein doch in die Hohlräume zwischen den Litaneien vor, und der Schock darüber verschaffte dem Mädchen den ersten einigermaßen klaren Augenblick seit vielen Tagen. Katharina tastete nach dem stinkenden Strohhaufen, auf dem Christine die ganze Zeit über gelegen, gekauert hatte. Jetzt war das Stroh kalt, kalt wie die Kerkermauer. Diese Kälte, das Fehlen der Geräusche, die stets von der Mitgefangenen gekommen waren, ließen Katharina noch klarsichtiger werden. Das Mädchen hockte jetzt still da, begann dann heftig zu schnaufen, zu weinen.
Und dann geschah etwas Seltsames mit dem jungen Mädchen. Ein Teil von ihr löste sich aus dem Gefängnis ihres Körpers, schwebte weg, nach oben, verließ den Kerker. Klarsichtig wußte Katharina in diesem kurzen Moment, daß ihre Zellengenossin anderswo auf der Streckbank lag, daß ihr Knöchel gebrochen war, daß auch ihre eigenen Eltern dort waren. Und dann hörte Katharina sogar Christines Stimme, eine sich jagende, überschnappende, hemmungslos redende Stimme. Sie hörte, wie ihr eigener Name gerufen wurde, die Namen ihrer Eltern, andere …
Als sie den Augenblick höchster Klarheit erreicht hatte, schrie sie wie am Spieß. Dann stürzte sie zurück in den Abgrund der ewigen Litaneien; aus dem Zustand der Hellsichtigkeit in die tiefe Dunkelheit. Das letzte, was irgendwo fern noch nachhallte, war wiederum ihr eigener Name.
***
»Katharina Grueber ist eine Hexe«, schrie Christine, immer noch auf der Folterbank. Immer noch hart bis zur unerträglichen Schmerzgrenze gestreckt. »Eine Hexe, ja! Die schlimmste Hexe von uns allen. Sie hat mit dem Teufel getanzt. Sie hat's mir selbst gesagt …«
»Und du?« Straßmayrs Stimme milde wie noch nie in diesen Wochen. »Du bist auch eine Hexe, nicht wahr?«
»Ja!«
»Warum hast du so lange geleugnet? Hat dich der Leibhaftige so verstockt gemacht?«
»Der Leibhaftige! Der Satan!«
»Dein Herr?«
»Mein Herr!«
Der Jesuit hatte nur kurz in die Befragung eingegriffen. Jetzt erlaubte er mit einem großzügigen Wink, daß Monhaim wieder übernahm. Der Kapuziner tat es erregt: »Du sagst, die Katharina Grueber ist eine Hexe. Ihre Eltern auch. Wer noch?«
Christine schwieg.
»Wer noch?« Monhaim hämmerte mit der gelblichen Faust gegen die Balustrade. »Sag die Namen, sonst …«
Christine sah das Bild eines jungen Burschen vor sich. Er war etwa ebenso alt wie sie, und im vergangenen Frühjahr hatte sie für ihn geschwärmt. Für Katharinas Bruder. Die Erinnerung an diese Tage wurde so stark, daß sie nun alles andere hinwegschwemmte, auch Monhaim, auch den Jesuiten, auch die Streckbank.
»Balthasar«, flüsterte das Mädchen. »Balthasar Grueber!« Die alten Grueberschen keuchten entsetzt.
Monhaim triumphierte. »Also der auch! Der also auch! Und wer noch? Dein Vater? Der alte Weinzierl?«
»Nein, der nicht!«
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