Die Hexenadvokatin
Freiheit und ihre Zukunft. Sie war jetzt beinahe so weit, dass sie ein reuiges Geständnis vor Maximilian gar nicht mehr in Betracht zog - selbst wenn dies bedeutete, dass »ihre Sünde«, von der Pater Contzen sie freigesprochen hatte, wieder auf sie zurückfiele. Nicht zu Unrecht befürchtete sie den maßlosen Zorn des düpierten Fürsten und dessen Willen zur Vergeltung - war ihr doch sein kleinlicher Wunsch nach Rache nicht unbekannt.
Warum sollte sie den Sündenbock abgeben für etwas, an dem sie den allergeringsten Anteil hatte? Alles bliebe an ihr hängen, denn auf eine harte Auseinandersetzung mit ihrem Vater würde es der Herzog nicht ankommen lassen. Er konnte es sich gar nicht leisten, einen bedeutenden Herrn aus dem Hochadel Bayerns allzu sehr vor den Kopf zu stoßen.
Schließlich wusste der Herzog genau, dass der alte Graf zu Mangfall-Pechstein imstande wäre, sich von der katholischen Kirche ab- und den Protestanten zuzuwenden.
Und die Jurisdiktion über Pater Winfried, den zweiten Hauptverantwortlichen, oblag im Übrigen nicht dem Herrscher Bayerns, sondern dem Orden der Benediktiner. Demnach bliebe allein Alberta als Opfer übrig. Doch diese dachte gar nicht daran, sich für etwas bestrafen zu lassen, unter dessen Folgen sie selbst wohl am meisten gelitten hatte.
Pater Contzen hatte nicht Unrecht: In gewisser Weise war Alberta ihre Jugend gestohlen worden; und plötzlich war in ihr der Entschluss gereift, sich zur Wehr zu setzen und sich nicht wieder wie eine Schachfigur von den mächtigen Männern umherschieben zu lassen.
Der über der Stadt verhängte Quarantänezustand war zwar aufgehoben, da seit Tagen keine neuen Pestfälle gemeldet wurden. Die Kontrollen an den Stadttoren erfolgten jedoch
nach wie vor peinlich genau. Aber ein Bote aus Italien konnte endlich eine Nachricht für Alberta überbringen. Sie stammte von Albrecht und brachte ihr Herz zum Jubilieren.
»Meine Geliebte«, ließ der Edelmann aus der Toskana sie wissen, »ich erwarte Euch mit Sehnsucht in meinem Schloss bei Lucca. Die Umbaumaßnahmen sind so gut wie beendet und ich hoffe, Liebste, sie finden Euer Wohlgefallen.
Dennoch könnte es möglich sein, Carissima, dass Euer künftiges Leben ganz woanders stattfindet. Ich habe nämlich engen Kontakt zu einem Verwandten mütterlicherseits in London aufgenommen, wohin mich die Suche nach einem geeigneten Architekten für die Modernisierung des Castello di Fiori geführt hatte. Dieser Cousin - er lebt übrigens mit seiner Gemahlin und drei Söhnen seit beinahe zwei Jahrzehnten im Norden Amerikas und hielt sich nur zu Besuch in England auf - hat mich auf ganz neue Ideen gebracht! Aber darüber, Liebste, lasst uns sprechen, sobald Ihr bei mir sein werdet - was, so Gott will, bald der Fall sein möge!«
Albertas Herz machte beim Lesen einen förmlichen Sprung. War ihr selbst doch vor nicht allzu langer Zeit der Gedanke an Auswanderung durch den Sinn gegangen, als die französischen Edelleute vom Leben in der Wildnis Nordamerikas erzählten.
Die Schilderungen der traumhaft schönen »Neuen Welt« mit ihren mächtigen Gebirgen und tief eingegrabenen Tälern, den endlos weiten Ebenen, den unergründlichen Seen und unendlich langen Flussläufen - beinahe so unberührt wie kurz nach der Erschaffung der Welt - standen ihr noch lebhaft vor Augen.
Im Geiste malte sie sich aus, wie es wäre, im Winter in einem mächtigen Blockhaus mit dem Liebsten am gemauerten Kamin, in dem riesige Ahorn- und Buchenscheite glommen,
zu sitzen und auf das Frühjahr zu warten, wo man in den Wäldern der Umgebung Wild erlegen und aus den aufgetauten Bächen Lachse fangen könnte, während das eigene Vieh sich am fetten Weidegras gütlich tat.
Und das Allerwichtigste: In diesem Land würde ihr nicht mehr die Obrigkeit an den Fersen kleben und sie zwingen, Urteile zu fällen, die ihr von Herzen widerstrebten; sie müsste keine Männerkleidung mehr tragen, sondern dürfte endlich eine Frau sein und vielleicht sogar Mutter, wenn es dem Herrgott gefiele …
KAPITEL 67
15. Mai 1612, im Palais Mangfall-Pechstein
»ES VERSTEHT SICH doch von selbst, Pater Winfried, dass ich Euch mitnähme, falls es tatsächlich dazu käme. Was sollte ich denn ohne Euch anfangen?«, schmeichelte Alberta ihrem Mentor.
Der alte Mann war durch die Überlegungen seines Schützlings zutiefst betroffen. Als der Benediktiner den ins Auge gefassten Gedanken seiner Herrin an eine Auswanderung nach Amerika hörte, wurde ihm fast
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