Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
schwarzer Schatten zwischen anderen schwarzen Schatten, den sie nur erkannte, wenn er sich bewegte, aber sie war da, und das allein war wichtig. Arris Herz klopfte immer noch wie verrückt, und sie hatte immer noch Angst, aber es war nun eine andere Art von Furcht, die auf schwer zu beschreibende Weise leichter zu ertragen war.
»Wohin gehen wir?«, fragte sie.
Ihre Mutter machte eine unwillige Handbewegung, als wäre sie zwar nicht verärgert über die Frage an sich, wohl aber darüber, dass ihre Stimme die fast heilig anmutende Stille zwischen den Bäumen gestört hatte. Trotzdem antwortete sie. »Zur Quelle. Bleib immer dicht bei mir. Und sei still.«
Zur Quelle? Arris Verwirrung wuchs. Das war ein Fußmarsch, der selbst bei hellem Tageslicht nicht nur eine Weile in Anspruch nahm, sondern auch alles andere als ungefährlich war. Was wollten sie dort, mitten in der Nacht und ganz allein? Arri folgte ihrer Mutter gehorsam, und sie hätte wahrscheinlich auch ohne ihre Warnung kein Wort gesagt, denn dieser schwarz daliegende Wald erfüllte sie, zusammen mit der Erinnerung an ihren grässlichen Traum, mit einer Furcht, die ihr wortwörtlich die Kehle zuschnürte.
Ihre Gedanken überschlugen sich, aber sie taten es auf eine Weise, die sie den Weg auf der einen Seite als endlos empfinden ließ, als wollte die Strecke einfach kein Ende nehmen oder würde vor ihnen jeweils um das gleiche Stück länger, das sie gerade zurückgelegt hatten; auf der anderen Seite aber hatte sie zugleich auch das Gefühl, wie durch einen plötzlichen Zauber am Ziel zu sein. Als die Bäume vor ihnen zurückwichen und die kleine Waldlichtung unversehens vor ihnen lag, konnte sie sich nicht einmal mehr erinnern, was sie während der gesamten Wegstrecke gedacht hatte. Niemals zuvor war sie so verwirrt und so verunsichert gewesen wie heute.
Ihre Mutter hielt auch jetzt noch nicht an, sondern ging mit schneller werdenden Schritten bis zur Mitte der Lichtung, wo sich eine Anzahl fast mannshoher, zerschrundener Felsblöcke erhob. Das leise Plätschern von schnell fließendem Wasser war zu hören, und es kam Arri so vor, als wäre es der erste Laut, der seit Ewigkeiten bis zu ihnen drang.
»Was wollen wir hier?«, fragte sie.
Ihre Mutter verhielt zwar nicht im Schritt, bedeutete ihr aber mit einer raschen, unwilligen Geste, still zu sein, und kletterte, ohne sichtlich langsamer zu werden, geschickt auf den größten der wie sorgsam angeordnet daliegenden Findlinge. Ohne zu verstehen, was sie sah, beobachtete Arri, wie sie sich oben aufrichtete und dann langsam einmal im Kreis drehte, wobei sich ein Ausdruck angespannter Konzentration auf ihren Zügen breit machte. Dann begriff sie, dass ihre Mutter lauschte. Offenbar wollte sie ganz sichergehen, dass auch niemand in der Nähe war, der sie beobachten konnte.
Als Arri sich dem Felsen näherte, kletterte ihre Mutter ebenso geschickt und lautlos wieder zu ihr herunter und machte eine auffordernde Geste. »Zieh deinen Rock aus.«
»Wie?«, murmelte Arri verwirrt und mit einem Anflug von schlechtem Gewissen; sie dachte an den Riss im Saum, den sie sich im Steinkreis geholt hatte, und an die unheimliche Begegnung mit dem Schamanen, von der sie immer noch nichts erzählt hatte.
»Zieh deinen Rock aus«, wiederholte ihre Mutter. »Ich will nicht, dass du ihn zerreißt oder schmutzig machst.«
Arri verstand immer weniger, was hier eigentlich vorging, aber sie gehorchte und löste den Dorn aus der Gürtelscheibe, um dann den ledernen Gürtel abzulegen und anschließend aus dem Wickelrock zu schlüpfen. Ihre Mutter konnte ihrem Beispiel nicht folgen, denn sie selbst trug ein Kleid aus fein gesponnenem Flachs, das sie in einem Stück von den Schultern bis zu den Knöcheln verhüllte - etwas, das ihren schlanken, hohen Wuchs auf ganz besondere Weise betonte. Jetzt nahm sie den Kleidersaum hoch, schlug ihn mehrmals um und stopfte die so gewonnene Wulst sorgfältig in ihren breiten Gürtel aus bestem Hirschleder, wodurch ihre nackten, fast weißen Beine bis zu den Oberschenkeln entblößt wurden. Dann nahm sie Arri den Rock ab. Wenn sie den feinen Riss im Saum bemerkte, den sich ihre Tochter im Steinkreis zugezogen hatte, dann ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Arris Erleichterung hielt allerdings nur so lange, bis sie ihn zu einem der Felsen trug und sorgfältig darauf ablegte. Wieso legte sie so viel Wert darauf, den Rock in Sicherheit zu bringen?
Eine Weile stand ihre Mutter einfach so da und
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