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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wirklich hell geworden, und Mond und Sterne waren ebenso wenig zu sehen wie vorhin, aber die dicht geschlossene Wolkendecke hoch über ihnen hatte sich jetzt grau gefärbt, nicht mehr schwarz, und in dem Durcheinander aus Schatten und verschwommenen Umrissen, das sie umgab, erschienen die ersten, angedeuteten Farben. Es begann schon zu dämmern. Sie rasteten bei den Felsen, neben denen der Bach wie selbstvergessen vor sich hinplätscherte. Arri ließ sich auf die Knie nieder, um von dem eiskalten Wasser zu trinken, und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen einen moosbewachsenen Stein, um ein bisschen zu verschnaufen. Aber ihre Mutter gönnte ihr keine längere Rast, ganz im Gegenteil; sie scheuchte sie wieder hoch und ging schneller weiter als zuvor.
    Arri hatte erwartet, dass die zweite Hälfte des Weges weit weniger anstrengend werden würde als die erste, aber das war ein Irrtum. Der Weg war nicht nur ebenso anstrengend, sondern auch deutlich länger, und so verrückt es ihr auch selbst vorkam, war es doch beinahe schlimmer zu sehen, wohin sie ging, statt in vollkommener Dunkelheit hinter ihrer Mutter herstolpern zu müssen. Als sie sich endlich dem jenseitigen Rand des Waldes und damit ihrer Hütte näherten, war Arri am Ende ihrer Kräfte angelangt. Es war mittlerweile vollends Tag geworden. Selbst hier unten, im Wald, war es hell, und das klare, goldfarbene Sonnenlicht, das durch das dünner werdende Blätterdach fiel, ließ sie eine Wärme erwarten, die es erst in vielen Mondwenden wieder geben würde. Ganz im Gegenteil war es noch immer so kalt, dass ihr Atem vor ihrem Gesicht dampfte und das trockene Laub unter ihren Schritten mit einem Geräusch wie dünnes Eis brach. Trotz der zwei Umhänge, die Arri noch immer trug, war die Kälte längst bis in ihre Knochen vorgedrungen, und obwohl sie selbst wusste, wie albern diese Vorstellung war, glaubte sie ein paar Mal doch selbst, ihre eigenen Knochen knirschen zu hören.
    Taumelnd vor Erschöpfung trat sie hinter Lea aus dem Wald und biss die Zähne zusammen, um Kraft für das letzte Stück Weg zu sammeln, auch wenn allein der Gedanke an die Stiege, die am Ende dieser Strecke auf sie wartete, ihr wiederum ein lautloses Stöhnen entlockte. Aber Lea hob rasch die Hand und hielt sie zurück. »Warte«, sagte sie.
    Arri war viel zu müde, um zu widersprechen. Selbst die kleine Anstrengung, den Kopf zu drehen und ihre Mutter fragend anzusehen, ging fast über ihre Kräfte. Sie war sogar zu müde, um Mitleid zu empfinden, obwohl Lea einen Anblick bot, der wahrlich bemitleidenswert war. Ihr Kleid war nicht nur durch zahllose Brandflecken verunstaltet, sondern auch überall eingerissen und verdreckt, und ihre Haut hatte den kränklichen Ton der feinen Asche, die Achk manchmal früher aus seinem Brennofen geholt hatte. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und obwohl sie ganz still stand und sich mit höchster Konzentration umblickte, zitterte sie doch zugleich am ganzen Leib. Ihr Haar, das immer so glatt und glänzend wie ruhig daliegendes Wasser gewesen war, wirkte jetzt stumpf und strähnig, und ihre Lippen waren eingerissen und von Schorf bedeckt.
    Ganz plötzlich begriff Arri, dass ihre Mutter vermutlich nicht nur in der letzten Nacht, sondern möglicherweise auch in den beiden vorhergehenden keinen Schlaf gefunden hatte und am Ende ihrer Kräfte angelangt war. Mit einem Mal schämte sie sich, sich selbst auf dem Weg hierher so bemitleidet zu haben. Was hatte sie schon zu beklagen, außer einer verbrannten Hand und ein paar geprellten Rippen?
    »Worauf warten wir?«, fragte sie.
    Ihre Mutter bedeutete ihr erneut mit einer raschen, unwilligen Bewegung, zu schweigen, und der Ausdruck müder Konzentration auf ihrem Gesicht nahm noch zu. Auch Arri sah sich aufmerksam um, konnte aber rein gar nichts Ungewöhnliches bemerken. Vom Dorf her wehten gedämpfte Laute herüber, doch weder auf dem Weg hinauf noch hier unten war irgendjemand zu sehen, was nicht weiter ungewöhnlich war. Auch wenn die Menschen im Dorf beizeiten aufzustehen pflegten, so war es doch noch früh. Die Sonne konnte erst vor kurzem ganz aufgegangen sein. Dennoch musste ihre Mutter irgendetwas Ungewöhnliches entdeckt haben, das erkannte Arri deutlich an ihrer Reaktion. Ihre Hand hatte sich wieder auf das Schwert gelegt, und sie wirkte angespannt.
    »Mutter?«, murmelte Arri.
    Lea blieb noch einen Moment lang in dieser aufmerksamen Haltung stehen, dann aber entspannte sie sich sichtlich, ließ die

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