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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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es Arri, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. War sie tatsächlich so leicht zu durchschauen? »Dragosz wollte sich von dir verabschieden. Ich musste ihn fast mit Gewalt davon abhalten, dich zu wecken.«
    »Warum?«, fragte Arri.
    »Er ist schon vor einer ganze Weile losgefahren«, antwortete Lea. Bildete sie es sich nur ein, oder wurde ihre Stimme plötzlich kühler? »Du hattest den Schlaf dringender nötig als ein paar Abschiedsworte. Und es ist ja nicht für lange. In spätestens vier oder fünf Tagen ist er zurück, und dann begleiten wir ihn.« Sie machte plötzlich eine ungeduldige Geste. »Komm jetzt. Wenn wir uns beeilen, sind wir zu Hause, bevor es richtig hell geworden ist.«
    Allein bei dem Wort beeilen lief Arri schon wieder ein kalter Schauer über den Rücken. Abgesehen von ihrer rechten Hand hatte sie keine wirklichen Schmerzen, aber ihr ganzer Körper fühlte sich völlig verhärtet an, und allein die Vorstellung, mehr als drei aufeinander folgende Schritte zu tun, erschien ihr geradezu unvorstellbar. Sie rührte sich nicht von der Stelle.
    »Gibt es noch irgendetwas?«, fragte Lea.
    »Nein. Ich hätte mich nur. gern von Dragosz verabschiedet, das ist alles.«
    »Warum?« In Leas Stimme war eine neue Schärfe, die Arri zur Vorsicht gemahnte. »Einfach so«, antwortete sie. »Ich dachte nur, dass. immerhin ist er schwer verletzt worden, weil er uns beschützen wollte.«
    »Wie rührend«, sagte Lea spöttisch. »Aber in ein paar Tagen siehst du ihn ja schon wieder. Warte hier.«
    Arri hatte nicht vorgehabt, irgendwo hinzugehen, ganz im Gegenteil erschien ihr der Gedanke, sich einfach wieder ins Gras sinken zu lassen und die Augen zu schließen, mit einem Mal verlockender als alles andere. Ein wenig ratlos stand sie da, während ihre Mutter aufs Neue mit den Schatten verschmolz und dann abermals so plötzlich und lautlos wie ein Gespenst wieder auftauchte, um ihr einen aus Lederflicken zusammengenähten Beutel hinzuhalten. Es schwappte hörbar, als Arri danach griff.
    »Trink«, sagte Lea. »Du musst durstig sein.«
    Eigentlich verspürte sie viel größeren Hunger als Durst, aber das änderte sich, kaum dass die ersten Tropfen ihre Lippen benetzt hatten. Als fache das Wasser ihren Durst viel mehr an, anstatt ihn zu löschen, fühlte sich ihre Kehle plötzlich wie ausgedörrt an, und Arri trank den Beutel mit großen, gierigen Schlucken fast zur Hälfte leer und hätte wohl auch noch die andere Hälfte heruntergestürzt, hätte ihre Mutter ihn ihr nicht mit sanfter Gewalt wieder weggenommen.
    »Nicht so gierig«, warnte sie. »Du kannst trinken, so viel du willst, aber nicht so schnell.«
    Eine plötzliche, kaum noch zu beherrschende Wut flammte in Arri auf, und beinahe hätte sie ihrer Mutter den Schlauch aus der Hand gerissen und sie angeschrien, dann aber schämte sie sich dieses Gefühls, zumal sie fast sicher war, dass Lea es deutlich auf ihrem Gesicht erkennen konnte. Sie hatte ja Recht. Wenn sie zu schnell und zu gierig trank, dann würde ihr allerhöchstem übel werden, und sie würde Lea noch mehr zur Last fallen, als sie es ohnehin schon tat.
    »Also los«, sagte ihre Mutter, »gehen wir.«
    Arri widersetzte sich nicht, sondern folgte ihrer Mutter. Das Gehen bereitete ihr weitaus weniger Schwierigkeiten, als sie erwartet hatte. Die ersten Schritte waren pure Qual, gegen die jede Faser ihres Körpers aufzubegehren schien, aber schon bald ebbten die Schmerzen ab, und sie waren kaum zehn oder fünfzehn Schritte weit in den Wald vorgedrungen, da war alles bis auf das quälende Pochen in ihrer rechten Hand auf ein halbwegs erträgliches Maß herabgesunken. Arri schöpfte allmählich Hoffnung, dass ihre Kräfte vielleicht doch ausreichen würden, um das heimatliche Dorf zu erreichen, zumal ihre Mutter zwar ein alles andere als gemäßigtes Tempo einschlug, dennoch aber Rücksicht auf sie nahm und weitaus weniger schnell ausschritt, als sie gekonnt hätte. Vielleicht lag es auch daran, dass es hier, im Innern des Waldes, so dunkel wie in einer Höhle war.
    Schon bei Tage war es in diesem Teil des Waldes niemals heller als während der Dämmerung, doch jetzt, in dieser noch dazu Sternen- und mondlosen Nacht, konnten sie nicht die Hand vor Augen sehen. Arri achtete streng darauf, niemals weiter als einen Schritt hinter ihrer Mutter zurückzufallen, und selbst so erkannte sie sie lediglich als Schemen, der sich nicht wirklich von seiner Umgebung abhob, sondern sich einzig durch seine Bewegung verriet.

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