Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
unbequem, die Hand auf dem Hals der Stute liegen zu lassen; sie hatte auch nicht vergessen, was ihre Mutter ihr über Sturmwind erzählt und was sie selbst mit ihr erlebt hatte, und hütete sich, zu fest zuzugreifen, um ihr nicht etwa aus Versehen wehzutun, was sie mit Sicherheit mehr bereut hätte als das Pferd, und dennoch war es genau wie vorhin bei Nachtwind: die bloße Berührung schien schon auszureichen, um ihr einen Teil der unglaublichen Kraft dieses riesigen, starken Geschöpfes zu geben. Sturmwind zog sie tatsächlich mit sich, ihre Füße flogen nur so über den Boden, und obwohl sich ihr verletztes Knie und nur einen Augenblick später auch ihre Schulter schon wieder schmerzhaft in Erinnerung brachten, spürte sie doch, dass sie die Geschwindigkeit auf diese Weise lange durchhalten würde.
Und vermutlich musste sie das auch. Das ehemalige Flusstal lag so weit und frei vor ihnen, wie sie nur sehen konnte. Nahe der Stelle, an der sie sich mit Rahn und den anderen getroffen hatten, war der Boden grasbewachsen und einigermaßen eben gewesen, nun aber wurde er immer steiniger, das Gras schrumpfte zu kleinen, kümmerlich wachsenden Büscheln, und es gab nur noch sehr wenige Bäume, die vereinzelt standen oder in so winzigen Gruppen, dass sie allenfalls als ein Versteck für einen einzigen Menschen ausgereicht hätten, und wahrscheinlich nicht einmal das. Von Dragosz' Männern war keine Spur zu sehen. Sie konnten nur hoffen, ihren Verfolgern wenigstens bis Sonnenuntergang davonzulaufen, um dann - vielleicht - Schutz im Dunkel der Nacht zu finden.
Arianrhod legte im Laufen den Kopf in den Nacken und suchte aus zusammengekniffenen Augen nach der Sonne. Sie hatte ihren Abstieg schon lange begonnen, aber es würde noch eine Weile dauern, bevor es stockfinster wurde. Selbst wenn ihre Kräfte reichten, um so lange durchzuhalten (was sie bezweifelte), würden ihre Verfolger sie bis dahin vermutlich längst eingeholt haben. Sie liefen schnell, aber längst nicht so schnell, wie es ein Mann konnte, der nichts als seine Kleider und seinen Speer mit sich trug. Auch wenn die Krieger Gosegs an diesem Morgen keine wirklich gute Figur gemacht hatten, so beging Arianrhod doch nicht den Fehler, sie zu unterschätzen. Die meisten von ihnen waren jung und kräftig, sie bekamen das beste Essen und wussten mit ihren Waffen umzugehen.
Nein, dachte sie niedergeschlagen, diese Männer würden sie einholen, lange bevor die Sonne untergegangen war. Verzweiflung begann sich in ihr breit zu machen. Arianrhod hatte keine Angst um ihr Leben. Sie wusste, dass Dragosz, ihre Mutter und sie ihren Verfolgern auf jeden Fall entkommen würden, wenn sie auf die Pferde stiegen und einfach davonritten. Aber das würde den sicheren Tod für Rahn und die anderen bedeuten. Ihr Blick suchte immer hektischer die Ränder des Flusstales ab. Das Gelände zur Linken war nahezu unbewachsen und eben, so weit sie es von hier unten aus erkennen konnte, das zur Rechten mit umso dichterem Wald bestanden. Der Aufstieg dorthin würde mühsam sein und viel Kraft kosten, doch es gab überall Stellen, an denen er zumindest möglich schien. »Dragosz!«, rief sie.
Dragosz wandte im Laufen den Kopf und sah zu ihr zurück. Arianrhod hob die freie Hand und winkte ihm zu, und Dragosz ließ sich zurückfallen, bis er neben ihr herlief.
»Warum verstecken wir uns nicht in den Wäldern dort oben?«, fragte sie mit einer entsprechenden Geste.
Dragosz' Blick folgte der Bewegung, aber er schüttelte fast sofort den Kopf. »Unmöglich.« Obwohl er ebenso lange und schnell gelaufen war wie sie, ging sein Atem nicht einmal spürbar schneller, was Arianrhod einigermaßen unverschämt fand. »Sie würden uns finden. Außerdem kommen uns meine Männer durch dieses Tal entgegen.«
Unwillkürlich sah Arianrhod noch einmal nach vorn. Von den Männern, von denen Dragosz immer wieder gesprochen hatte, war noch nichts zu sehen, sodass sie sich allmählich zu fragen begann, ob es sie überhaupt gab oder ob das Heer, das er zu ihrer Rettung hierher befohlen hatte, vielleicht nicht nur aus den beiden Kriegern in ihrer Begleitung bestand; möglicherweise sogar nur aus einem, den anderen hatte sie bisher ja auch noch nicht zu Gesicht bekommen.
Geradezu schuldbewusst verscheuchte sie den Gedanken. Dragosz mochte vieles sein, aber kein Lügner und ganz bestimmt kein Aufschneider. Wahrscheinlich befanden sich die Männer noch hinter der Biegung des Flusstales, auf die sie sich zubewegten.
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