Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
sie las das Versprechen, sie mitzunehmen in den Tod, und mehr noch, sie glaubte so etwas wie ein Erkennen in ihnen zu lesen. Und tief in ihr antwortete etwas darauf und ließ sie mit raubtierhaftem Instinkt reagieren. Ihre rechte Faust zuckte zu einem Schlag hervor, wie ihn Dragosz oft, sie selbst aber noch nie ausgeführt hatte. Und in das letzte schauerliche Krächzen der Krähe mischte sich ein tiefer gutturaler Laut.
Sie erwischte die Krähe so wuchtig am Hals, dass der Vogel einen grotesken Hüpfer machte. Er flatterte auf, gewann wieder an Höhe, und einen schrecklichen Augenblick lang sah es so aus, als würde er sich nun auf die gleiche Art auf Arri stürzen wollen, in der er auch schon das fremde Nest attackiert hatte. Arri machte eine rasche Abwehrbewegung und traf den Pfeilschaft: Die Krähe rotierte einmal um ihre Achse und tauchte dann unter ihr weg, prallte gegen einen Felsen, wurde wieder davongeschleudert …
Und Arri wäre ihr um ein Haar gefolgt. Ihr letzter wilder Abwehrschlag hatte sie ein Stück nach vorn stolpern lassen, auf den Rand des Felssims zu, auf dem sie Schutz gesucht hatte. Und nur mit einer entschlossenen, rückwärts rudernden Bewegung konnte sie ihr Gleichgewicht wahren und sich irgendwo so festklammern, um sich wieder an die Wand zu ziehen.
Sie wartete keuchend ab. Dieser widerliche Vogel! Sie verstand überhaupt nicht, was gerade geschehen war. Raben und Krähen wurden seit alters her die unterschiedlichsten Dinge nachgesagt, und nur die wenigsten waren freundlich. Sie galten als Unheilverkünder, standen in dem Ruf, Menschen verwirren zu können und Unglück über Felder und Pflanzungen zu bringen – aber so etwas wie eben?
»Was ist hier … nur los?«, murmelte sie. Was mochte sie getan haben, dass ihr die Götter einen Unglücksvogel schickten und ihn von einem Bogenschützen abschießen ließen, nur damit sie in die Tiefe stürzte?
Es war ein ganz und gar unsinniger Gedanke, und sie wusste dies auch, aber sie konnte sich nicht von ihm lösen. Sie wusste nicht, welche Götter es waren, die sie herausgefordert hatte, und warum sie so zornig auf sie waren: Aber sie wusste, dass sie sie vernichten wollten.
Wie zur Antwort auf diesen Gedanken erscholl erneut Hundegebell über ihr, rau, hungrig und angeheizt. In ihrer Phantasie sah sie Männer und Frauen den Weg bis zum Gipfel entlanghasten, mit entschlossenen Gesichtern und zusammengekniffenen Mündern, zu nichts anderem entschlossen, als sie für ihre Untaten mit dem Tod zu bestrafen, ob sie sie dafür nun einen Berg hinabstürzen, totprügeln oder mit einem Pfeil abschießen mussten.
Gehetzt wie ein Reh, das keinen Ausweg mehr wusste, sah sie sich um. Die Stelle, an der sie jetzt mehr hockte als stand, hätte ungünstiger nicht sein können; von hier aus kam sie nicht weg, konnte nicht mehr schnell in irgendeine Richtung fliehen. Während ihr Blick über die kargen Sträucher und schroffen Felsen glitt, ging ihr die Verwüstung gar nicht aus dem Sinn, die sie eben noch im Dorf gesehen hatte. Die zerschlagenen Hütten am Ufer, die zerstörten Stege, der weggewirbelte Hausrat – all dies war schrecklich. Wenn man glaubte, die Fremde sei all für dies verantwortlich, die Drude, die schon drei Tage zuvor so viel Unheil über Urutark gebracht hatte – dann war es wirklich kein Wunder, wenn man sie jetzt zu Tode hetzen wollte.
Wie dem auch sei. Sie musste jedenfalls weiter, möglichst an eine andere Stelle, von der aus sie besser wegkam; zur Not auch erst einmal irgendwo anders hin, und nicht gleich in die Höhle. Vorsichtig schob sie sich weiter, einen winzigen Schritt nach dem anderen, und so eng an die Wand gedrückt, dass sie hören konnte, wie Stoff riss und etwas in ihren Rücken einschnitt. Nur noch ein kleines Stück bis zum nächsten Vorsprung, dahinter war sie dann wenigstens vor dem Bogenschützen in Sicherheit – vorerst jedenfalls.
Sie stieß sich ab, fuhr mit glitschigen Händen über nackten Fels, fand dort Halt, wo sie gar keinen vermutet hatte, rutschte dann aber gleich wieder an der Stelle ab, die ihr fälschlicherweise sicher erschienen war, und bekam mit dem rechten Fuß ausreichend Gegendruck, um sich abzustoßen …
Ein Pfeil pfiff auf sie zu und knallte in eine winzige Felslücke vor ihr. Um ein Haar wäre sie zurückgeprallt und hätte damit endgültig den Halt verloren. Ihre Hand rutschte über Moos, bekam den Pfeilschaft zu fassen und umklammerte ihn in schierer Verzweiflung. Der Pfeil zitterte
Weitere Kostenlose Bücher