Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
errichten: größer und mächtiger sogar als das sagenumwobene Goseg – damit sie alle zusammen auch künftig in Frieden und Wohlstand leben konnten. Und er war doch ihr Leben! Er verkörperte all das, was sie sich für ihre Zukunft ersehnt hatte.
Wie hatte das nur alles geschehen können? Mit Kyrill hatte sie ihrem Mann in einer Uferhütte den ersehnten Nachfolger geschenkt, das äußere Zeichen ihrer Liebe, die ihr altes Wissen und Dragosz’ Tatkraft in einer Person miteinander verschmolz.
Sie hatte geglaubt, ihr gemeinsames Glück in dem schon fast vollständig errichteten Pfahldorf sei damit fest begründet. Doch jetzt war ihr Leben zerstört, und niemals wieder würde die Sonne für sie scheinen, die Freude nie wieder in ihr Herz einkehren.
Aber was war mit ihrem Sohn? Was sollte nach Dragosz’ Tod nur aus ihm werden?
Arri schluchzte auf, als sie an das kleine Bündel dachte, das sie gestern noch in den Armen gehalten hatte. Und dann schluchzte sie noch einmal, als ihr bewusst wurde, dass es vielleicht das letzte Mal gewesen war, dass sie Kyrill an ihre Brust gedrückt hatte. Ihr Schluchzen hallte ungewöhnlich laut über den Steg, bevor es vom Nebel wie von einem gierigen Raubtier verschluckt wurde. Wie sehr sie Kyrill schon jetzt vermisste!
Kyrill und Dragosz. Ihren Sohn und ihren Mann.
Dragosz, seine Stärke, seine Lebendigkeit! In allen wichtigen Lebensfragen hatte sie sich mit ihm besprochen, und das hätte sie auch jetzt getan, bei der Frage nach Kyrills Schicksal. Es war ihr Sohn gewesen, den ihr der Schmiedegehilfe Rar so grob aus den Armen gerissen hatte, als wollte er ihn schon im nächsten Augenblick ins Schmiedefeuer werfen. Alles fühlte sich so entsetzlich sinnlos an. Dragosz hatte immer Rat gewusst oder sie darin ermutigt, selbst eine Lösung zu finden. Sie waren einander die wunderbarste Ergänzung gewesen: Sie, die von ihrer Mutter Lea in Dingen unterrichtet worden war, für die die Raker noch nicht einmal Worte hatten, und Dragosz, der große Visionen umzusetzen verstand und auf dem Weg dorthin alle Hindernisse aus dem Weg räumte: die einen mit guten Worten, die anderen allerdings … mit Gewalt.
In dem schmerzlichen Augenblick ihrer größten Trauer war es die niederschmetternde Heimtücke des Schicksals gewesen, die sie fast mehr erschüttern konnte, als Dragosz in der Totenbarke aufgebahrt zu sehen. Der Herrscher der Raker war ein Krieger, und wenn es ihm schon nicht vergönnt war, alt und ehrenhaft inmitten seiner Sippe den letzten Atemzug zu tun, dann hätte ihm doch zumindest der Tod auf dem Schlachtfeld bestimmt sein sollen. Aber wie ein tollwütiger Hund mit Schaum auf den Lippen zu verrecken, das war ja noch schlimmer als alles andere, das hatte er nicht verdient!
Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor, die Beinfesseln schnitten sich wie schartige Bronzeklingen in ihre Haut ein. Der Schmerz war jedoch auch fast so etwas wie ein Freund, nur dazu da, sie ins Leben zurückzuholen. Aber statt ihn zu beachten, wanderte ihr Blick über den Toten, über die ebenmäßigen Gesichtszüge des Mannes, der sie bei ihrer ersten Begegnung vor einem angriffslustigen Wolf gerettet hatte, und der ihr seitdem immer beigestanden hatte, auch in der schweren Zeit, als ihr die Raker mit unverhohlener Verachtung begegnet waren.
Nun wurde ihr Liebster zum letzten Mal vom Licht der Morgensonne liebkost. Es schnürte ihr fast das Herz ab, ihn in seiner vollen Kriegermontur auf einem von schlichtem Leinen bedeckten Podest aufgebahrt zu sehen. Sein Gesicht war blass, fast fahl, die Ringe unter seinen Augen wirkten so, als wären sie mit Asche nachgezogen worden, und um seinen Mund, der von einem einsamen Lichtstrahl umspielt wurde, lag ein bitterer Zug. Es sah aus, als sei der Herrscher der Raker lediglich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen.
Einen Schlaf allerdings, aus dem er nie wieder erwachen würde.
Arri streckte die Hände vor, als sie ihren Liebsten so daliegen sah, und nun schnitten sich auch die Lederriemen, mit denen Taru die Handgelenke seiner verhassten Stiefmutter zusammengezurrt hatte, schmerzhaft tief in ihre Haut ein. Sie hätte nichts lieber getan, als Dragosz noch einmal zu berühren, ihm das lange Haar zurückzustreichen und seine Wange zu streicheln – so, wie sie es gewohnt war, wenn er sich von einem langen, harten Tag erschöpft zu ihr gesellt hatte – aufs Lager. Ihr das jetzt, nach seinem Tod, zu verwehren, fühlte sich so fürchterlich an, dass es ihr den
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