Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Knüppel in der Hand und auch keine Steinaxt, sondern eine Waffe aus Bronze oder Kupfer. Das machte die Sache doppelt gefährlich.
Arri rutschte ein Stück tiefer, soweit es ihre augenblickliche Deckung nur zuließ, und spähte ins Tal hinab. Sie wurde mit einem grandiosen Ausblick auf das steinerne Wunder unter sich belohnt, das sie diesmal allerdings weniger vor Ehrfurcht erschauern ließ. Unter glücklicheren Umständen hätte es ihr aber auch eher einen kalten Schauer über den Rücken gejagt. Wie überdimensionale Finger stachen Steinmonolithen in den Himmel empor, manche nur halb aus dem Steinbruch herausgehauen und merkwürdig unfertig aussehend, andere wie Findlinge ohne jegliche Spur einer Bearbeitung, während eine Vielzahl der größten unter ihnen teilweise oder vollständig behauen waren. Einige waren auf der Oberseite mit Moos und Flechten bewachsen, die meisten aber grauschwarze Ungetüme, die aussahen, als hätten die Götter sie dort als Mahnung an die Menschen in den Untergrund gerammt, sich nur nicht zu wichtig zu nehmen.
Wie lange diese steinernen Zeugen einer längst vergangenen Menschheitsepoche hier schon standen und mit sturer Beharrlichkeit selbst den heftigsten Unwettern trotzten, war gar nicht abzuschätzen. Aber es schien, als atme über dem ganzen Tal der Odem der Ewigkeit und mache ihn erst zu einem mystisch zeitlosen Ort, geradezu geschaffen für uralte Rituale – und für die Begegnung mit den Ahnen. Arri hatte diesen Zauber schon das erste Mal gespürt, als sie mit Dragosz hergekommen war. Und auch jetzt fühlte sie, wie etwas Uraltes Besitz von ihrer Seele ergriff und sie einlud, mit auf eine magische Reise ins Nirgendwo zu kommen …
Ein heftiger Windstoß ließ sie torkeln, dann klammerte sie sich fest und starrte in den dunklen, teilweise aufgerissenen Himmel. Wo waren jetzt die Ahnen? Wo war ihre Mutter? Wer stand ihr bei?
Bitte, helft mir, flehte sie.
Die Wolken rissen nicht auf, kein geheimes Zeichen erschien am Himmel und auch die Stimme ihrer Mutter war nicht zu hören. Dafür ließ der Wind merklich nach. Statt so grob an ihr zu zerren, als wolle er sie im nächsten Augenblick herunterreißen, wurde er sanfter und umstrich sie so zärtlich, dass sie das Gefühl hatte, von liebkosenden Händen gestreichelt zu werden.
»Dragosz?«, flüsterte sie.
Sie wusste, dass ihr Mann noch nicht im Totenreich angekommen sein konnte, dazu war die Reise über den Frykr viel zu lang und beschwerlich. Aber konnte es nicht trotzdem sein …?
Es konnte nicht sein. So, wie sie dastand und zum Himmel starrte, gab sie ein gutes Ziel ab – Dragosz hätte ihr das niemals durchgehen lassen.
Und zwar zu Recht, wie sie begriff, als sie aus den Augenwinkeln heraus erneut eine Bewegung gewahrte, und diesmal war es mehr als nur ein kurzes Aufblitzten. Noch bevor sie sich ganz umgedreht hatte, wurde ihr klar, dass sich jemand aus seiner Deckung erhoben hatte und zu ihr hinübersah. Arri hätte beinahe laut aufgelacht, als sie den verwaschenen Schatten eines Mannes erkannte, der einen Bogen hochriss und mit geübter Bewegung einen Pfeil auf die Sehne legte.
Ein Bogenschütze? Die Vorstellung war doch lächerlich. Gewiss, viele der Dorfbewohner kannten sich mit Pfeil und Bogen bestens aus – aber warum sollten sie auf sie schießen, wenn sie sie doch eingekesselt hatten und davon ausgehen mussten, dass sie sie ohnehin noch vor Einbruch der Nacht einfangen konnten: wie ein Lamm, das sich zu weit von der Herde entfernt hatte. Schließlich wollten sie ihr doch den Prozess machen, ob mit oder ohne Gosegs Hilfe …
Sie kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Der Pfeil wurde von der Sehne gelassen und schnellte auf sie zu, und so schnell ihre Ausweichbewegung auch kam, so kam sie doch zu spät. Ihr Kopf war noch nicht einmal ein kleines Stück zurückgezuckt, als der Pfeil auch schon da war – und durch ihr Haar hindurchfegte, um irgendwo hinter ihr auf einem Felsen aufzuprallen und klappernd über nackten Stein zu fallen.
Arri stieß einen enttäuschten Schrei hervor, ging in die Hocke und streckte die Hände aus, bis sie einen Überhang zu fassen bekam, an dem sie sich entlanghangeln konnte. Jeder bewusste Gedanke schien wie hinweggefegt, sie wollte nur noch weg von hier. Mit hastigen Bewegungen zog sie sich weiter, immer sorgfältig darauf bedacht, kein so leichtes Ziel zu bieten.
Dem ersten Pfeil folgte kein zweiter, was auch nicht weiter verwunderlich war: wenn sie niemanden sah,
Weitere Kostenlose Bücher