Die historischen Romane
nicht vollenden sollte. Er wurde 1902 im Schlaf erstickt, nachdem ein Dachdecker, ein Dreyfus-Gegner, aus Verbitterung den Schornstein des Schriftstellers verstopfte, um ihn für seine Artikel zu bestrafen. Die Bitterkeit aber dauerte an; eine ganze Gesellschaft war von einer Verschwörungstheorie, dem Antisemitismus, vergiftet worden, und das Gift hatte nicht nur Zolas Leben gefordert, sondern auch das von Dutzenden von Duellanten. Die Protokolle der Weisen von Zion entstanden in diesen Jahren, geschrieben in Russland von einem Journalisten und Spion, der noch kurz zuvor in Paris gearbeitet hatte und von seinen französischen Freunden mit Literatur und Geschichten beliefert wurde.
Dreyfus wurde Opfer der katholisch-konservativen Angst vor den Symptomen einer neuen, wissensbasierten, geldorientierten und säkularisierten Machtelite. Je nach Kontext wurden Juden, Freimaurer, elitäre Wissenschaftler oder obskure Großindustrielle als Verantwortliche identifiziert, dunkle Mächte, die hinter verschlossenen Türen Pläne schmieden. Jede Epoche hatte ihre Sündenböcke. Im Mittelalter waren es die Juden als Brunnenvergifter, während der Renaissance die Hugenotten, im achtzehnten Jahrhundert die philosophes und die Freimaurer, im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Juden, die Kommunisten beziehungsweise die Imperialisten im Kalten Krieg, heute sind es die üblichen Verdächtigen. Die Statisten verändern sich, das Stück und seine Handlung bleiben gleich.
Um eine Handlung geht es also, um das Erzählen, um den uralten, goldenen Ariadnefaden aus dem Labyrinth, um die Verführung und die Gefahren von Geschichten. Zu einem dichten Gewebe werden sie, nahtlos verflochten mit unseren primitivsten Ängsten. Jede ihrer Fasern führt direkt zum Spinnrad der Parzen, die das Schicksal durch ihre mitleidlosen Finger rinnen lassen. Diese Geschichten prägen sich uns ein und wirken auf uns, weil sie in unserem individuellen und kollektiven Gedächtnis Resonanzen wecken. Ihre kulturellen Resonanzen sind umso mächtiger, je weiter sie zurückreichen.
Was all diesen Geschichten gemein ist, ist die optimistische, eigentlich religiöse Haltung derer, die an sie glauben. Der Optimismus ist existentieller Art. Er beginnt mit dem Axiom, dass diese Welt im Prinzip lesbar ist, dass trotz des scheinbaren Chaos um uns her eine heimliche Ordnung herrscht, dass unser Leben und Sterben in einem sinnvollen Zusammenhang erklärt werden kann. Gegen die humanistisch-liberale Verzweiflung derer, die sich in einem leeren Universum ohne göttliche Gerechtigkeit und ohne Bedeutung verloren vorkommen, setzt der Verschwörungstheoretiker die optimistische Überzeugung, dass die Welt zwar pervers ist, fehlgeleitet und von mächtigen Gegnern kontrolliert, dass sie aber auch im Prinzip sinnvoll ist, dass ihre eigentliche Gerechtigkeit nur korrumpiert wurde, dass es eine Ordnung der Dinge gibt, die wiederherzustellen ist. Ein Verschwörungstheoretiker ist ein instinktiver Platonist.
Eine Verschwörungstheorie bietet den existentiellen Trost der Welterklärung, eine einfache Antwort auf komplizierte Probleme. Sie identifiziert einen Feind, und die Lösung des Problems scheint in dessen Eliminierung zu liegen. Sie gibt den Einzelnen eine Geschichte, die er/sie über sich und seinen/ihren Ort in der Welt erzählen können. Sie kennt nur eine Wahrheit, eine Erlösung und ist damit in ihrem Kern religiös. Don Quichote war der emblematische Verschwörungstheoretiker – er konnte die Realität seines Lebens weder verstehen noch ertragen, also träumte er sich in eine Welt hinein, in der er einen Ort hatte, eine Mission, einen Feind.
Als Geschichte, die den Menschen ihre Orientierungslosigkeit abnimmt, rührt auch die abstruseste Weltherrschaftsphantasie an tiefe Bedürfnisse. Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, schaffen Selbstbild und Weltverständnis, schaffen die Welt selbst. Aus der Frustration über Zufall und Ungerechtigkeit entstanden, identifizieren sie die vermeintlich Schuldigen. Von dort bis zur Tat, zur Hexenjagd und zum Mord ist es nur noch ein kurzer Schritt.
Die Protokolle der Weisen von Zion haben sich tief in die Denkmuster der westlichen und der arabischen Welt eingebrannt, denn in ihnen laufen zahlreiche motivische Stränge zusammen, von uralten Gruppenängsten zu der protestantischen Wahrheitssuche, dem aufklärerischen Kampf gegen die allmächtige Kirche und der reaktionären Angst vor neuen Eliten, von
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