Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
der Gesellschaft solche Tendenzen am Werk. Von dem zornigen Atheisten Jean Meslier (der sein ganzes Leben als Landpfarrer verbracht hatte und abends bei Kerzenlicht in verzweifelter Rage ein vielhundertseitiges spirituelles und politisches Testament verfasste) borgten sie die Idee, Frankreich und andere feudale Staaten seien nichts als eine »Verschwörung der Priester und Magistrate«, in der Angst vor der Hölle und gewaltsame Unterdrückung Hand in Hand arbeiteten, um das einfache Volk willig zu halten und Steuern zu kassieren, um eine Klasse von Schmarotzern zu finanzieren.
    Während Holbach und Diderot die christliche Gesellschaft selbst als Verschwörung gegen die Menschlichkeit analysierten, wurde auch Holbachs Salon als schändliche Kabale dargestellt. Konservative Publizisten nannten sie la secte des empoisonneurs, die Sekte der Giftmischer, was sie in den Augen der Kirche sicherlich auch waren, oder la secte des encylopédistes, die enzyklopädische Sekte, nach dem von Diderot herausgegebenen Großwerk, an dem viele seiner Freunde beteiligt waren.
    Jean-Jacques Rousseau, der ehemalige Busenfreund und spätere erklärte Feind von Diderot, ging noch einen Schritt weiter und beschuldigte den Baron und seine Gäste, la cotérie Holbachique (also etwa Holbachs Clique, wie er sie nannte), systematisch seine Vernichtung zu betreiben und ihrerseits eine tyrannische Herrschaft des Unglaubens vorzubereiten. Zunehmend von Paranoia verfolgt, sah er Verschwörungen gegen sich überall. Auch die Gesellschaft, die er in der Zukunft verwirklichen wollte, war von solchen Ideen geprägt. Sein Gesellschaftsentwurf in Der Sozialvertrag läuft darauf hinaus, dass eine Gruppe von tugendhaften Wissenden die Belange der anderen im Namen des allgemeinen Willens lenkt und Dissidenten mit Zensur, Polizei und notfalls durch Hinrichtung mundtot macht. Die Gewaltherrschaft der Illuminati aus der Feder eines Philosophen der noch heute als Freiheitsapostel gilt, eineinhalb Jahrhunderte vor den Protokollen.
     
    Frankreich blieb bis ins späte neunzehnte Jahrhundert hinein ein wahres Gewächshaus für Verschwörungstheorien und tatsächliche Verschwörungen, von denen eine drohte die gesamte Gesellschaft zu spalten. Die Weltsicht vieler katholischer und konservativer Bourgeois, Militärs und Kleinbürger fixierte sich schon bald auf die Juden als Feindbild, das sie als Verkörperung eines internationalen Kapitalismus ohne Tradition und Stolz sahen. Ihre Ängste manifestierten sich in einem tiefsitzenden Antisemitismus, der von Bestsellern wie Edouard Drumonts La France juive (1886) und von antisemitischen Zeitungen weiter angeheizt wurde. Als der jüdische Elsässer Hauptmann Alfred Dreyfus vor einem Militärgericht der Spionage gegen das eigene Land angeklagt wurde, polarisierte der Fall die Öffentlichkeit.
    Dreyfus war der perfekte Kandidat als Sündenbock der Nation. Als Elsässer stand er von vorneherein im Verdacht, dem deutschen Erbfeind zu nahe zu sein. Als jüdischer Offizier wurde er als Agent des Internationalismus an der Speerspitze der Nation wahrgenommen, als französischer Jude galt er als ehrgeiziger Emporkömmling, dessen Motivation nicht zu trauen war.
    Noch während der Hauptmann in Untersuchungshaft war, wurde der wirkliche Autor des wichtigsten Beweisstückes bekannt, wurde aber von einem Militärgericht einstimmig freigesprochen. Dreyfus hingegen wurde 1894 zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Vor hunderten seiner Kameraden wurde Dreyfus zeremoniell degradiert, sein Säbel vor ihm zerbrochen. Dann trat er seine Verbannungsstrafe auf der Teufelsinsel an.
    Als die Fakten des Prozesses in den folgenden Jahren offengelegt wurden, wurde deutlich, dass der Hauptmann nicht nur Opfer eines Justizirrtums geworden war, sondern einer Verschwörung von Seiten antisemitischer Offiziere, Richter und Politiker, die versuchten, den wahren Schuldigen, der während der Verhandlungen nicht einmal als Zeuge vernommen worden war, zu decken. Eine Welle der Empörung erhob sich im liberalen Lager, während die konservativ eingestellten Anti-dreyfusards darauf bestanden, er sei rechtmäßig verurteilt worden. Am 13. Januar 1898, dem Höhepunkt der Kontroverse, in der Familien zerbrachen und alte Freunde einander zu meiden begannen, publizierte der Schriftsteller Émile Zola sein J’accuse! als bewusste Provokation gegen die Regierung.
    Noch fast ein Jahrzehnt sollte vergehen, bis Dreyfus 1906 rehabilitiert wurde, ein Jahrzehnt, das Zola

Weitere Kostenlose Bücher