Die historischen Romane
antikolonialen Ressentiments bis hin zu den Illuminati. Sie schöpfen ihre Kraft nicht daraus, dass sie wahr sind (denn sie sind es nicht), sondern dass sie Furcht und Frustration von Menschen aus sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten und sozialen Klassen ansprechen.
Die Protokolle sind das Konglomerat so vieler Motive, dass es letztendlich gleichgültig ist, ob sie nun wahr sind, ob sie den (ohnehin von den Mächtigen manipulierten) Tatsachen entsprechen. Verschwörungstheorien müssen ausreichend viel Wahrheit beinhalten, um plausibel zu sein, aber ihre eigentliche Kraft liegt im emotionalen Sog, den sie ausüben, im Versprechen von Sinn, von einem Ganzen, an das man glauben kann und dessen Teil man wird. Ob oder inwiefern Geschichten wahr oder unwahr sind, ist gleichgültig. Was zählt, ist nur, ob es starke Geschichten sind.
Das zwanzigste Jahrhundert sah Pogrome und Völkermorde, die stalinistischen Schauprozesse, die chinesische Kulturrevolution, die Schreckensherrschaft des Pol Pot, die mörderischen Diktatoren Afrikas und Südamerikas und die antikommunistische Hysterie der McCarthy-Ära. Jede dieser Greueltaten und Hetzkampagnen war um eine Geschichte gewoben, die mit realen Ängsten spielte, eine Verschwörungstheorie, wie sie auch heute noch weithin zirkulieren – Muammar al-Ghaddafi und Robert Mugabe sind die Dinosaurier dieser paranoiden Zunft, Hugo Chávez und Mahmud Ahmadinedschad ihre willigen Eleven.
Unter britischen Historikern kursiert das Sprichwort, die Geschichtsschreibung ließe sich in zwei Lager unterteilen: diejenigen, die es mit Cleopatras Nase halten, und diejenigen, die nur an den cock-up glauben. Die Version nach Cleopatra geht wie folgt: Wäre die Nase der Pharaonin etwas kürzer oder länger gewesen, wäre ihre Schönheit nicht so perfekt, dann hätten sich Cäsar und Marcus Antonius nicht in sie verliebt, das Römische Reich wäre nicht zerbrochen. Die Version des cock-up , also des Mistbauens, besagt ganz einfach, dass Pläne niemals direkt umsetzbar sind, dass die Welt zu komplex ist, dass immer irgendein trivialer Fehler zu einem völlig anderen, normalerweise schlechteren Resultat führt als erhofft.
Beide historische Sichtweisen lassen wenig Spielraum für Verschwörungstheorien. Die Schule von Cleopatras Nase betont die Macht des Schicksals, die unwiderstehliche Faktizität der kleinen Dinge. Demgegenüber ist jeder Versuch, die Gesetze der Welt durch Manipulation zu überlisten, zum Scheitern verurteilt. Das zweite Lager ist noch skeptischer. Irgendjemand baut immer Mist, und so wird auch keine noch so ausgefeilte Verschwörung eine Chance auf dauerhaften Erfolg haben, irgendwo fliegt immer eine altersschwache Möwe ins Triebwerk, und ein Kind rennt zum falschen Moment über die Straße. Es sind nicht die hochintelligenten, unbesiegbaren Neos wie in The Matrix, die realen Verschwörern von Catilina im alten Rom bis hin zu Graf Stauffenberg zum Verhängnis wurden, sondern dumme Zufälle und menschliche Unzulänglichkeit.
Dies ist die Sicht der Geschichte, vor der umgekehrt Verschwörungstheorien Zuflucht bieten. Viele suchen diese Zuflucht, denn es ist nicht leicht, sich in einer zufälligen, unordentlichen und unerklärbaren Welt zurechtzufinden. Jeder Verschwörungstheorie liegt der Wunsch zugrunde, eine Geschichte über sich selbst zu erzählen und die Welt so transparent zu machen, Schuldige zu identifizieren, sie zu beseitigen, die ursprüngliche Ordnung der Dinge wiederherzustellen.
Die Männer mit den finsteren Mienen sind Abgesandte einer dunklen Macht, die alles unterjochen will – und auf einmal wird klar, warum die Welt scheinbar so verworrene, irrwitzige Wege geht. Der Ariadnefaden glänzt golden in der Dunkelheit des Labyrinths. Wenn wir die Wahl zwischen einer schlechten Wirklichkeit und einer guten Geschichte haben, nehmen viele immer noch lieber die Geschichte.
Die Kraft des Falschen
Von UMBERTO ECO
Eine Fälschung, die den Gang der Weltgeschichte verändert hat?
Die Konstantinische Schenkung. Seit Lorenzo Valla wissen wir, dassdie Urkunde des Constitutum nicht echt war. Und doch hätte ohne dieses Dokument, ohne den tiefen Glauben an seine Echtheit die europäische Geschichte einen anderen Verlauf genommen, es hättekeinen Investiturstreit gegeben, keinen tödlichen Kampf um das Heilige Römische Reich, keine weltliche Macht der Päpste, keineOhrfeige von Anagni, aber auch keine Sixtinische Kapelle – die zwarerrichtet wurde,
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