Die historischen Romane
worden ist, damit er zu Kalk zerfalle, und prasselt umlodert von Flammen...«
»Und das ist dann fromme Liebe?«
Ubertin strich mir sanft übers Haar, und als ich ihm in die Augen sah, waren sie tränenumflort. »Ja, mein Sohn, das endlich ist fromme Liebe.« Er nahm seine Hand von meiner Schulter. »Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist sie zu erkennen! Manchmal, wenn deine Seele vom Dämon heimgesucht wird, fühlst du dich wie ein Gehenkter, der mit verbundenen Augen und auf dem Rücken gefesselten Händen am Galgen schwebt, aber weiterlebt, hilflos, haltlos, ohne Aussicht auf Rettung im Leeren hangend...«
Sein Antlitz war jetzt nicht nur tränenüberströmt, sondern auch schweißbedeckt. »Geh jetzt, geh!« rief er hastig und wandte sich ab. »Ich habe dir gesagt, was du wissen wolltest. Hier der Engelchor, dort der Höllenschlund. Geh rasch, und gelobt sei der Name des Herrn!« Er warf sich erneut vor der Jungfrau zu Boden, ich hörte ihn leise schluchzen. Er betete.
Ich trat ins Dunkel zurück, verließ aber nicht die Kirche. Das Gespräch mit Ubertin hatte ein seltsames Feuer in meiner Seele entzündet, und in meinen Eingeweiden rumorte eine nie gekannte Unruhe. War das der Grund, warum ich auf einmal den Stachel des Ungehorsams verspürte und beschloss, mich auf eigene Faust in die Bibliothek zu wagen? Nicht dass ich dort etwas Bestimmtes suchte, ich wollte nur einfach allein einen unbekannten Ort erkunden und war fasziniert von dem Gedanken, mich ohne die Hilfe meines Meisters orientieren zu können. Ich stürmte hinauf, wie Dolcino auf den Monte Rebello gestürmt war.
Die Öllampe trug ich bei mir (warum hatte ich sie mitgenommen? hatte ich etwa den Plan schon insgeheim in meinem Herzen bewegt?), und so drang ich fast blindlings in das Ossarium ein. Kurz darauf war ich im Skriptorium.
Es muss wahrhaftig ein Schicksalsabend gewesen sein, denn als ich neugierig zwischen den Tischen herumschlich, sah ich auf einem ein Buch, das einer der Mönche in jenen Tagen wohl gerade kopierte. Der Titel erregte sofort mein Interesse: Historia fratris Dulcini Heresiarche. Ich glaube, es lag auf dem Tisch des Bruders Petrus von Sant’Albano, der, wie ich gehört hatte, an einer monumentalen Geschichte des Ketzertums arbeitete (die er freilich nach allem, was in der Abtei geschehen sollte, niemals beendet hat – aber greifen wir den Ereignissen nicht vor). Es war also nicht weiter verwunderlich, dass dieses Buch hier lag, auch lagen andere Bücher ähnlichen Inhalts daneben, Schriften über die Patarener, die Flagellanten und so weiter. Ich aber nahm’s als ein übernatürliches Zeichen, sei’s vom Himmel oder auch aus der Hölle, und beugte mich voller Neugier darüber. Es war nicht sehr lang und besagte im ersten Teil mehr oder minder, mit zahlreichen Einzelheiten, die ich vergessen habe, was Ubertin mir erzählt hatte. Auch war die Rede von vielen Gräueltaten, welche die Dolcinianer während des Krieges und der Belagerung ihres Berges begangen – und von der letzten Schlacht, die überaus grausam gewesen sein muss. Dann aber fand ich auch manches, was Ubertin mir nicht erzählt hatte, und es war lebhaft geschildert von einem, der es offenbar selber miterlebt hatte und sich noch gut daran erinnern konnte.
So erfuhr ich, dass im März Anno Domini 1307, am Ostersamstag, Dolcino, Margaretha und Longinus von Bergamo, endlich gefangen, in die Stadt Biella verbracht und dort dem Bischof übergeben wurden, der sie einkerkern ließ und die Entscheidung des Papstes abwartete. Dieser, als er die Nachricht erhielt, übermittelte sie sogleich an König Philipp von Frankreich mit den Worten: »Wir haben höchst willkommene Nachricht erhalten, die Uns Anlass zu Freude und Jubel gibt, denn jener pestilenzialische Dämon, Sohn des Belial und gräuliche Häresiarch Dolcino ist nach langen Gefahren, Mühen, Metzeleien und zahlreichen Interventiones mitsamt seinen Anhängern endlich verwahrt in Unseren Kerkern, dank der Beharrlichkeit Unseres verehrungswürdigen Bruders Raniero, Bischof von Vercelli, der ihn gefangennahm am Tage des heiligen Abendmahls Unseres Herrn, und wurde der Haufe, der mit ihm war, da verseucht von der Kontagion, noch selbigen Tages getötet.« Der Papst war gnadenlos und befahl dem Bischof, die Gefangenen unverzüglich hinrichten zu lassen. So wurden die Ketzer im Juli desselben Jahres, am ersten Tage des Monats, dem weltlichen Arm übergeben. Unter dem Sturmläuten sämtlicher Glocken der Stadt
Weitere Kostenlose Bücher