Die historischen Romane
Erbe des heiligen Franz und de facto der Erbe seiner Interpreten. Er musste also mit der Weisheit und Heiligkeit eines Vorgängers wie Bonaventura von Bagnoregio konkurrieren, er musste die Respektierung der Regel gewährleisten, aber zugleich auch das Wohl des groß und mächtig gewordenen Ordens; er musste sein Ohr den Fürstenhöfen und städtischen Magistraten leihen, von denen der Orden – wenn auch in Form von Almosen – Schenkungen und Hinterlassenschaften, Keime zu Wohlstand und Reichtum bezog, und er musste gleichzeitig darauf achten, dass die eifrigsten Spiritualen in ihrem Bedürfnis nach Buße und Armut nicht dem Orden entglitten oder gar aus der ruhmreichen Bruderschaft, deren Haupt er war, einen Haufen häretischer Banden machten. Er musste allen zugleich gefallen: dem Papst, dem Kaiser, den kleinen Brüdern des armen Lebens, dem heiligen Franz, der ihn gewiss vom Himmel herab überwachte, und dem Christenvolk, das ihn auf Erden beobachtete. Als Papst Johannes sämtliche Spiritualen zu Ketzern verurteilt hatte, zögerte Michael nicht, ihm fünf der renitentesten provençalischen Brüder auszuliefern, wohl wissend, dass sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden würden. Doch als ihm dann aufging (wozu Ubertin einiges beigetragen haben dürfte), dass viele im Orden mit den Anhängern des schlichten evangelischen Lebens sympathisierten, sorgte er prompt dafür, dass vier Jahre später das Kapitel zu Perugia sich die Ansichten der Verbrannten zu eigen machte – natürlich im Bestreben, ein vielleicht ketzerisches Bedürfnis in die Lebensweisen und Institutionen des Ordens zu integrieren und den Papst zu veranlassen, diese Absicht zu teilen. Doch während er sich bemühte, den Papst zu überzeugen, ohne dessen Billigung er nichts unternehmen wollte, verschmähte er es gleichwohl nicht, die Gunstbezeugungen des Kaisers und der kaiserlichen Theologen entgegenzunehmen. Erst vor zwei Jahren hatte er auf dem Generalkapitel zu Lyon die Brüder ermahnt, von der Person des Papstes nur mit Mäßigung und respektvoll zu sprechen (und das, nachdem der Papst seinerseits wenige Wochen zuvor höchst abfällig von den Minoriten gesprochen und sich empört hatte über »ihr Gekläffe, ihre Fehler und ihre Torheiten«). Nun aber saß er aufs Freundschaftlichste zusammen mit Leuten, die von jenem Papst alles andere als respektvoll sprachen!
Den Rest habe ich bereits erwähnt: Johannes wollte den obersten Franziskaner in Avignon haben, Michael wollte der Einladung Folge leisten und wollte es auch wieder nicht, und das Treffen am nächsten Tage sollte über die Modalitäten und Sicherheitsgarantien einer Reise entscheiden, die nicht als ein Akt der Unterwerfung, aber auch nicht als einer der Herausforderung erscheinen durfte. Ich glaube nicht, dass Michael dem alten Fuchs von Cahors jemals persönlich begegnet war, zumindest nicht, seit dieser das Amt des Papstes bekleidete. Jedenfalls hatte er ihn lange nicht gesehen, und so beeilten sich nun seine Freunde, ihm die Person jenes ruchlosen Simonisten in den schwärzesten Farben zu malen.
»Eins musst du lernen«, sagte William gerade, »traue niemals seinen Schwüren: Er hält sie immer dem Buchstaben nach, bricht sie aber im Geiste.«
»Alle wissen«, fiel Ubertin ein, »was damals zur Zeit seiner Wahl geschah...«
»Wahl würde ich es ja nicht gerade nennen«, rief einer der Brüder dazwischen, den ich später Hugo von Novocastrum nennen hörte und dessen Akzent mich an den meines Meisters erinnerte. »Es war eher eine Usurpation. Schon der Tod Clemens' V. ist nie ganz aufgeklärt worden. Der König hatte ihm nicht verziehen, dass er trotz seines Versprechens, das Andenken an Bonifaz VIII. gerichtlich zu verfolgen, später alles getan hatte, um seinen Vorgänger nicht zu desavouieren. Wie er in Carpentras gestorben ist, weiß niemand genau. Tatsache ist, dass die Kardinäle, als sie zum Konklave in Carpentras zusammenkamen, sich auf keinen Nachfolger einigen konnten, weil die Debatte sich (völlig zu Recht) auf die Frage Avignon oder Rom verlagerte. Ich weiß nicht genau, was in jenen Tagen geschah. Ein Massaker, heißt es, die Kardinäle seien vom Neffen des toten Papstes bedroht worden, ihre Diener hingemetzelt, der Palast in Flammen gesteckt, die Kardinäle hätten sich an den König gewandt, der ihnen gesagt habe, er sei nie dafür gewesen, dass der Papst Rom verlasse, sie sollten sich beruhigen und eine gute Wahl treffen... Aber dann starb Philipp der Schöne,
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