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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Notizen in das Regal unter seinem Tisch, gewiss in der Absicht, es sobald wie möglich wieder hervorzuholen... In jedem Falle haben wir nur dieses Blatt, um auf die Natur des mysteriösen Buches zu schließen, und nur anhand der Natur jenes Buches wird es uns möglich sein, auf die Natur des Mörders zu schließen. Denn bei jedem Verbrechen, das begangen worden ist, weil der Verbrecher sich eines Gegenstandes bemächtigen wollte, liefert die Art dieses Gegenstandes einen wenn auch schwachen Hinweis auf den Charakter des Mörders. Wenn ein Mord geschehen ist wegen einer Handvoll Goldes, so wird der Mörder zweifellos habgierig sein; wenn er gemordet hat, um ein Buch zu bekommen, so wird er die Geheimnisse dieses Buches für sich bewahren wollen. Wir müssen also herausfinden, was in dem Buch, das wir nicht haben, stehen mag.«
    »Und Ihr wärt tatsächlich imstande, aus diesen wenigen Zeilen auf den Inhalt des Buches zu schließen?«
    »Mein lieber Adson, dies sind, so scheint mir, Worte eines heiligen Textes, dessen Bedeutung über den schlichten Wortlaut hinausgeht. Als ich sie heute Morgen nach unserem Gespräch mit dem Cellerar las, fiel mir als Erstes auf, dass auch hier wieder von einfachen Leuten und Bauern als Träger einer anderen Wahrheit die Rede ist, einer anderen Wahrheit als jener der Gebildeten. Der Cellerar hat durchblicken lassen, dass ihn eine sonderbare Komplizenschaft mit Malachias verbindet. Was, wenn Malachias einen gefährlichen Ketzertext versteckt hielte, den Remigius ihm womöglich anvertraut hat? Dann hätte Venantius vielleicht irgendeine geheime Lehre gelesen, einen Text über eine verschworene Gemeinschaft von groben und niederen Leuten, die gegen alles und jeden rebellierten... Allerdings...«
    »Allerdings?«
    »Allerdings spricht zweierlei gegen diese Hypothese: Erstens war Venantius kaum an solchen Fragen interessiert; er war ein Übersetzer griechischer Texte, kein Prediger häretischer Irrlehren... Und zweitens würden Sätze wie die mit den Feigen, dem Stein oder den Zikaden durch diese Hypothese nicht erklärt...«
    »Vielleicht sind es Rätselsätze, die eine andere Bedeutung haben«, regte ich an. »Oder habt Ihr eine andere Hypothese?«
    »Ich habe eine, aber sie ist noch unklar. Mir scheint, als ob ich einige dieser Worte schon irgendwo gelesen hätte, sie erinnern mich an ähnliche, die ich früher gehört habe. Mir scheint sogar, als sei hier von Dingen die Rede, über die wir in den letzten Tagen bereits gesprochen haben... Aber ich kann mich nicht recht erinnern. Ich muss darüber nachdenken. Vielleicht muss ich erst noch andere Bücher lesen.«
    »Wie das? Um zu erfahren, was ein Buch enthält, müsst Ihr andere Bücher lesen?«
    »Manchmal ist das ganz nützlich. Oft sprechen die Bücher von anderen Büchern. Oft ist ein harmloses Buch wie ein Samenkorn, das in einem gefährlichen Buch aufkeimt, oder es ist umgekehrt die süße Frucht einer bitteren Wurzel. Könntest du nicht zum Beispiel erfahren, was Thomas gedacht hat, wenn du Albertus liest? Oder aus den Schriften des Thomas erraten, was Averroës lehrte?«
    »Ja, das ist wahr«, sagte ich bewundernd. Bisher hatte ich immer gedacht, die Bücher sprächen nur von den menschlichen oder göttlichen Dingen, die sich außerhalb der Bücher befinden. Nun ging mir plötzlich auf, dass die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, dass es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander. Und im Licht dieser neuen Erkenntnis erschien mir die Bibliothek noch unheimlicher. War sie womöglich der Ort eines langen und säkularen Gewispers, eines unhörbaren Dialogs zwischen Pergament und Pergament? Also etwas Lebendiges, ein Raum voller Kräfte, die durch keinen menschlichen Geist gezähmt werden können, ein Schatzhaus voller Geheimnisse, die aus zahllosen Hirnen entsprungen sind und weiterleben nach dem Tod ihrer Erzeuger? Oder diese fortdauern lassen in sich?
    »Wozu nützt es dann, Bücher zu verbergen«, fragte ich, »wenn man aus den zugänglichen auf die unzugänglichen schließen kann?«
    »Im Fortgang der Jahrhunderte nützt es nichts. Im Fortgang der Jahre schon. Du siehst ja, wie sehr wir im Dunkeln tappen.«
    »Demnach ist eine Bibliothek nicht ein Mittel, um Wahrheit zu verbreiten, sondern um ihr Aufscheinen zu verzögern?« fragte ich verblüfft.
    »Nicht immer und nicht notwendigerweise. Aber hier schon.«

 
     
    Vierter Tag
SEXTA
    Worin Adson Trüffel suchen geht und die eintreffenden Minoriten

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