Die historischen Romane
erloschen ist. Die Karawane zog weiter in Richtung der Dünen, ich begriff, dass die Vision niemals wiederkommen würde, ich sagte mir, dass ich dieser Kreatur hätte folgen müssen, aber gegen Morgen begann ich zu lachen, und damals glaubte ich, es wäre aus Freude, doch es war ein Effekt des grünen Honigs, der eintritt, wenn seine Wirkung allmählich nachlässt. Als ich aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und fast hätte mich der Eunuch dort gefunden. Da nahm ich mir vor zu fliehen, um die ferne Prinzessin wiederzufinden.«
»Aber du hattest doch begriffen, dass sie nur eine Vorspiegelung des grünen Honigs war.«
»Ja, die Vision war eine Vorspiegelung, aber was ich seitdem im innersten Herzen empfand, war keine, das war echtes Verlangen. Ein Verlangen, das du empfindest, ist keine Illusion, es ist wirklich vorhanden.«
»Aber es war das Verlangen nach einer Illusion.«
»Ja, aber ich wollte dieses Verlangen nun nicht mehr verlieren. Es war genug, um mein ganzes Leben auszufüllen.«
Kurz, Abdul hatte schließlich einen Fluchtweg aus der Burg gefunden und war glücklich heimgekehrt zu seiner Familie, die ihn schon verloren gegeben hatte. Sein Vater, der Aloadins Rache fürchtete und ihn daher aus dem Heiligen Land entfernen wollte, schickte ihn nach Paris. Vor seiner Flucht aus der Burg hatte Abdul sich eines jener Silbergefäße mit grünem Honig verschafft, doch wie er Baudolino erklärte, hatte er nie mehr davon gekostet aus Furcht, die verfluchte Substanz könnte ihn wieder in jene Oase versetzen und ihn seine Ekstase immer von neuem erleben lassen. Er wusste nicht, ob er die Erregung aushalten würde. Die Prinzessin hatte er nun im Herzen, und niemand würde sie ihm mehr nehmen können. Lieber ein fernes Ziel ersehnen als ein falsches Erinnerungsbild besitzen.
Doch mit der Zeit, um Kräfte für seine Lieder zu finden, in denen die Prinzessin anwesend war, anwesend in ihrem Fernsein, hatte er hin und wieder gewagt, ein kleines bisschen von dem Honig zu kosten, nur eine Löffelspitze, gerade so viel, dass die Zunge einen Geschmack verspürte. Er hatte kurze Ekstasen gehabt, und so war es auch an jenem Abend gewesen.
Abduls Geschichte ging Baudolino im Kopf herum, und ihn reizte die Möglichkeit, eine wenn auch nur kurze Vision zu haben, in der ihm die Kaiserin erscheinen würde. Die kleine Kostprobe konnte ihm Abdul nicht verweigern. Baudolino verspürte nur eine leichte Starre und das Bedürfnis zu lachen. Aber er fühlte sich geistig erregt. Merkwürdigerweise nicht von Beatrix, sondern vom Priester Johannes – so dass er sich fragte, ob der wahre Gegenstand seines Verlangens nicht, mehr als die Dame seines Herzens, jenes unauffindbare Reich war. Und so kam es, dass die beiden an jenem Abend – Abdul fast wieder frei von der Wirkung des Honigs, Baudolino leicht benebelt – erneut über den Priester zu diskutieren begannen, indem sie sich genau die Frage seiner Existenz stellten. Und da offenbar die Wirkung des grünen Honigs darin bestand, das Niegesehene real und handgreiflich erscheinen zu lassen, entschieden sie sich für die Bejahung der Frage.
Er existiert, entschied Baudolino, denn es gibt keine Gründe, die gegen seine Existenz sprechen. Er existiert, stimmte Abdul zu, denn er habe von einem Scholaren gehört, dass es jenseits des Landes der Meder und Perser christliche Könige gebe, die mit den Heiden jener Regionen kämpften.
»Wie heißt dieser Scholar?« fragte Baudolino lallend.
»Boron«, antwortete Abdul. Und so machten sie sich am nächsten Morgen auf die Suche nach Boron.
Er war ein fahrender Scholar, der aus Montbéliard stammte, sich zur Zeit in Paris aufhielt (wo er die Bibliothek von Sankt Viktor frequentierte) und schon morgen wer weiß wo sein konnte, denn er verfolgte offenbar ein bestimmtes Projekt, über das er mit niemandem sprach. Er hatte einen großen Strubbelkopf und rote Augen vom vielen Lesen bei Kerzenlicht, aber er schien tatsächlich ein Ausbund von Gelehrsamkeit zu sein. Er faszinierte die beiden gleich bei ihrer ersten Begegnung, natürlich in einer Taverne, indem er ihnen subtilste Fragen vorlegte, über die ihre Magister tagelang disputiert hätten – ob sich Sperma einfrieren ließe, ob eine Prostituierte empfangen könne, ob der Schweiß am Kopf übler rieche als an anderen Körperteilen, ob die Ohren rot würden, wenn man sich schämte, ob ein Mann über den Tod der Geliebten mehr trauere als über ihre Hochzeit mit einem anderen, ob
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