Die historischen Romane
Otto berichtet, ein gewisser Hugo von Gabala habe gesagt, dass Johannes, nachdem er die Perser besiegt hatte, den Christen im Heiligen Land zu Hilfe kommen wollte, aber am Ufer des Flusses Tigris haltmachen musste, weil er keine Schiffe hatte, um seine Männer übersetzen zu lassen. Also lebt Johannes jenseits des Tigris. Klar? Aber das Schöne ist, dass das alle gewusst haben mussten, bevor Hugo davon sprach. Lesen wir noch einmal aufmerksam nach, was Otto geschrieben hat, der ja nichts unüberlegt geschrieben hat. Wieso musste dieser Hugo hingehen und dem Papst erklären, warum Johannes den Christen in Jerusalem nicht hatte helfen können, als müsste er ihn rechtfertigen? Weil offensichtlich jemand in Rom tatsächlich schon diese Hoffnung gehabt hatte. Und an der Stelle, wo Otto sagt, dass Hugo den Namen Johannes nennt, fügt er hinzu: sic enim eum nominare solent – so nämlich pflegen sie ihn zu nennen. Was bedeutet dieser Plural? Offenbar, dass nicht nur Hugo, sondern auch andere solent , pflegen – und folglich schon damals pflegten – ihn so zu nennen. Weiter schreibt Otto, dass Hugo behauptet, Johannes habe sich, wie die Magier, von denen er abstammte, nach Jerusalem begeben wollen, aber dann schreibt er nicht, dass Hugo beteuert, das es ihm nicht gelungen sei, sondern fertur , es wird berichtet, und andere, im Plural, asserunt , versichern, dass es ihm nicht gelungen sei. Ihr seht, wir lernen von unseren Meistern, dass es keinen besseren Prüfstein der Wahrheit gibt«, schloss Baudolino, »als die Kontinuität der Tradition.«
Abdul raunte Baudolino ins Ohr, vielleicht habe auch Bischof Otto manchmal grünen Honig genommen, aber Baudolino stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen.
»Ich habe noch nicht verstanden, warum euch dieser Priester so wichtig ist«, sagte Boron, »aber wenn es irgendwo etwas zu suchen gibt, dann nicht an einem Fluss, der aus dem Irdischen Paradies kommt, sondern im Irdischen Paradies selbst. Und da hätte ich manches zu erzählen ...«
Baudolino und Abdul drängten ihn, mehr über das Irdische Paradies zu sagen, aber er hatte den Fässern der Drei Kandelaber zu sehr zugesprochen und sagte, er könne sich an nichts mehr erinnern. Als hätten sie beide denselben Gedanken, ohne einander etwas zu sagen, fassten die beiden Freunde den wankenden Boron unter die Arme und brachten ihn in ihr Zimmer. Dort gab ihm Abdul eine wohlabgemessene winzige Menge grünen Honig, nur eine Löffelspitze, und eine weitere teilte er sich mit Baudolino. Woraufhin Boron, nachdem er einen Moment wie vor Schreck erstarrt geblieben und sich umgeschaut hatte, als ob er nicht mehr wüsste, wo er war, etwas vom Paradies zu sehen begann.
Er sprach und erzählte von einem gewissen Tugdalus, der anscheinend sowohl die Hölle wie das Paradies besucht hatte. Von der Hölle brauche er nicht zu reden, aber das Paradies sei ein Ort voller Güte, Freude, Fröhlichkeit, Wonne, Schönheit, Gesundheit, Eintracht, Einigkeit, Anstand, Nächstenliebe und Ewigkeit ohne Grenzen, es werde geschützt von einer Mauer aus Gold, hinter welcher sich viele mit Edelsteinen geschmückte Sitze erhöben, auf denen Männer und Frauen säßen, junge und alte, gekleidet in seidene Tücher, und ihre Gesichter strahlten wie die Sonne, und ihre Haare glänzten wie pures Gold, und alle sängen Halleluja und läsen ein Buch mit goldenen Lettern.
»Nun«, sagte Boron sehr vernünftig, »in die Hölle kann jeder kommen, man muss es nur wollen, und manchmal kommt auch jemand von dort zurück und erzählt davon in Form eines Albtraums, eines Inkubus oder Sukkubus oder sonst einer schlimmen Vision. Aber kann man wirklich annehmen, dass jemand, der solche Dinge gesehen haben will, ins Himmlische Paradies gelangt ist? Und selbst wenn es dort tatsächlich so zuginge, ein Lebender wäre niemals so schamlos, es zu erzählen, gewisse Mysterien muss ein anständiger und bescheidener Mensch doch für sich behalten!«
»Gebe Gott, dass nie einer auf dem Angesicht der Erde erscheint, der so sehr von Eitelkeit zerfressen ist«, kommentierte Baudolino, »dass er das Vertrauen missbraucht, das der Herr ihm geschenkt hat!«
»Nun also«, sagte Boron, »ihr kennt sicher die Geschichte von Alexander dem Großen, der am Ufer des Ganges anlangt und dort eine Mauer vorfindet, die dem Lauf des Flusses folgt, aber nirgendwo ein Tor hat. Er folgt der Mauer, und nach drei Tagen sieht er ein kleines Fenster, aus dem ein alter Mann schaut; die Reisenden verlangen,
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