Die historischen Romane
ließ seinerseits alle Cremeser herbeiholen, die er noch hatte, ließ vor der Stadt einen Wald von Galgen errichten und machte Anstalten, alle hängen zu lassen. Bischöfe und Äbte stürzten herbei und flehten ihn an, Gnade walten zu lassen – er, der doch der Quell des Erbarmens sein müsse, dürfe nicht die Ruchlosigkeit seiner Feinde nachahmen. Der Kaiser war berührt von dieser Intervention, doch er konnte die Drohung nicht einfach zurücknehmen, und so beschloss er, wenigstens neun jener Unglücklichen hinzurichten.
Als Baudolino dies alles hörte, brach er in Tränen aus. Nicht nur, weil er von Natur aus ein Mann des Friedens war, schon die bloße Vorstellung, dass sein heißgeliebter Adoptivvater sich mit solchen Verbrechen besudelt hatte, bewog ihn, in Paris zu bleiben und weiterzustudieren – und auf dunkle Weise, ohne dass er sich dessen bewusst wurde, überzeugte sie ihn auch, dass es keine Sünde war, die Kaiserin zu lieben. So fing er wieder an, immer leidenschaftlichere Briefe zu schreiben, sowie Antworten, die einem Eremiten das Blut in Wallung gebracht hätten. Nur dass er sie diesmal nicht mehr seinen Freunden zeigte.
Da er sich trotzdem schuldig fühlte, beschloss er, etwas zum Ruhme seines Herrn zu tun. Otto hatte ihm als Vermächtnis und letzten Auftrag hinterlassen, den Priester Johannes aus dem Dunkel des bloßen Gerüchts zu holen. Also widmete sich Baudolino fortan der Suche nach jenem unbekannten, jedoch – laut Otto – gewiss hochberühmten Priester.
Da Baudolino und Abdul, nachdem sie die Jahre des Triviums und des Quadriviums hinter sich hatten, im Disputieren wohlgeübt waren, stellten sie sich als erstes die Frage: Gibt es wirklich einen Priester Johannes? Allerdings stellten sie sich diese Frage unter Bedingungen, die Baudolino seinem byzantinischen Zuhörer zu erklären eine gewisse Hemmung verspürte.
Seit der Poet fort war, wohnte Abdul bei Baudolino. Eines Abends, als Baudolino nach Hause kam, saß Abdul allein im Zimmer und sang eines seiner schönsten Lieder, in dem er davon träumte, seiner fernen Prinzessin zu begegnen, doch als er sie schon fast zum Greifen nahe vor sich hatte, schien sie plötzlich rückwärts zu gehen. Baudolino begriff nicht recht, ob es die Worte waren oder die Musik, aber das Bild Beatrixens, das ihm sofort erschienen war, als er dem Gesang lauschte, entschwand und löste sich vor seinen Augen in nichts auf. Abdul sang weiter, und nie war ihm sein Gesang so verführerisch vorgekommen.
Als das Lied zu Ende war, sank Abdul erschöpft zusammen. Baudolino fürchtete schon, er werde in Ohnmacht fallen, und beugte sich über ihn, aber Abdul hob eine Hand, als wollte er ihn beruhigen, und begann auf einmal leise zu lachen, einfach so, ohne Grund. Er lachte, und dabei zitterte er am ganzen Körper. Baudolino dachte, er hätte Fieber, Abdul sagte immer noch lachend, er solle ihn lassen, er werde sich schon wieder beruhigen, er kenne das, er wisse, worum es sich handle. Und schließlich, gedrängt von Baudolinos Fragen, entschloss er sich, ihm sein Geheimnis zu beichten.
»Hör zu, mein Freund. Ich habe ein bisschen grünen Honig genommen, nur ein kleines bisschen. Ich weiß, dass es eine teuflische Versuchung ist, aber manchmal hilft es mir beim Singen. Hör zu, und schilt mich nicht. Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich im Heiligen Land eine wunderbare und schreckliche Geschichte gehört. Es hieß, nicht weit von Antiochia lebte eine Sarazenensippe, die in den Bergen hauste, hoch oben auf einer nur den Adlern zugänglichen Burg. Ihr Anführer nannte sich Aloadin, und er flößte sowohl den sarazenischen wie den christlichen Fürsten größten Schrecken ein. Mitten in seiner Burg nämlich, so hieß es, gab es einen Garten mit allen Arten von Früchten und Blumen, durch welchen Bäche von Wein, Milch, Honig und Wasser flossen, und überall tanzten und sangen Mädchen von unvergleichlicher Schönheit. In diesem Garten durften nur junge Männer leben, die Aloadin entführen ließ, um sie an diesem Ort des Entzückens an nichts als Lust zu gewöhnen. Ich sage Lust, denn jene Mädchen waren, wie ich die Erwachsenen raunen hörte – wobei ich verwirrt errötete –, willig und stets bereit, die jungen Männer zu befriedigen, sie verschafften ihnen unbeschreibliche und, wie ich vermute, zermürbende Freuden. So dass naturgemäß jeder, der an diesen Ort gelangte, ihn um keinen Preis wieder verlassen wollte.«
»Nicht schlecht, dein Aloadin oder wie er
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