Die historischen Romane
sich nannte«, sagte Baudolino lächelnd, während er dem Freund ein feuchtes Tuch an die Stirn drückte.
»Das meinst du«, entgegnete Abdul, »weil du noch nicht die ganze Geschichte kennst. Eines schönen Morgens erwachte einer der jungen Männer in einem kahlen, sonnendurchglühten Hof und fand sich in Ketten liegen. Nach einigen qualvollen Tagen wurde er zu Aloadin gebracht, warf sich vor ihm auf die Knie, drohte sich umzubringen und flehte, ihn wieder in jenen lustvollen Garten zurückzuversetzen, auf dessen Wonnen er nicht mehr verzichten könne. Da eröffnete ihm Aloadin, er sei beim Propheten in Ungnade gefallen und könne seine Gunst nur wiedererlangen, wenn er bereit sei, eine große Tat zu vollbringen. Er gab ihm einen goldenen Dolch und sagte, er solle sich an den Hof eines mit ihm verfeindeten Herrn begeben und ihn töten. Auf diese Weise würde er sich erneut verdienen, was er begehrte, und sollte es ihn das Leben kosten, würde er sofort ins Paradies kommen, wo es genauso schön sei wie in jenem Garten, aus dem er verbannt worden sei, ja sogar noch schöner. So kam es, dass Aloadin eine enorme Macht hatte und alle Fürsten ringsum in Schrecken versetzte, ob Mauren oder Christen, denn seine Abgesandten waren zu jedem Opfer bereit.«
»Na dann«, kommentierte Baudolino, »doch lieber eine dieser schönen Pariser Tavernen und ihre Mädchen, die man haben kann, ohne sich dafür zu verkaufen. Aber du, was hast du mit dieser ganzen Geschichte zu tun?«
»Viel habe ich damit zu tun, denn als Zehnjähriger bin ich von Aloadins Männern entführt worden. Und bin fünf Jahre bei ihnen geblieben.«
»Und als Zehnjähriger hast du all diese Mädchen genossen? Und dann bist du losgeschickt worden, um jemanden zu ermorden? Abdul, was erzählst du mir da?«
»Ich war noch zu klein, um sofort unter die glücklichen jungen Männer eingereiht zu werden, ich wurde als Diener einem Eunuchen zugeteilt, der sich um ihr Wohlergehen kümmerte. Aber hör zu, was ich entdeckte. Fünf Jahre lang hatte ich nie etwas von irgendeinem Garten gesehen, denn die jungen Männer lagen immer aneinandergekettet in jenem kahlen, sonnendurchglühten Hof. Jeden Morgen nahm der Eunuch aus einem Schrank kleine Silbergefäße, die eine honigartige, aber grünliche Flüssigkeit enthielten, trat vor jeden der Gefangenen und verabreichte ihm einen Löffel davon. Sie schluckten das Zeug und begannen sofort, sich und den anderen all jene Genüsse und Wonnen zu schildern, von denen die Legende berichtet. Verstehst du, sie verbrachten den Tag selig lächelnd mit offenen Augen. Gegen Abend fühlten sie sich müde und begannen zu lachen, manchmal leise, manchmal unbändig laut, und dann schliefen sie ein. So kam es, dass ich allmählich begriff, welcher Täuschung sie von Aloadin unterzogen wurden: Sie lagen in Ketten und bildeten sich ein, im Paradies zu leben, und um dieses Glücksgefühl nicht zu verlieren, wurden sie zu willigen Mordwerkzeugen ihres Herrn. Wenn sie dann heil von ihren Unternehmungen zurückkamen, wurden sie wieder in Ketten gelegt, sahen und hörten jedoch erneut, was der grüne Honig ihnen vorgaukelte.«
»Und du?«
»Eines Nachts, während alle schliefen, bin ich in den Raum geschlichen, wo die Silbergefäße mit dem grünen Honig aufbewahrt wurden, und habe davon gekostet. Gekostet, sage ich? Zwei Löffel habe ich davon genommen, und sofort fing ich an, wunderbare Dinge zu sehen ...«
»Schien dir, du wärst in jenem Garten?«
»Nein, vielleicht haben die von dem Garten geträumt, weil Aloadin ihnen bei der Ankunft davon erzählt hatte. Ich glaube, dieser Honig lässt einen immer das sehen, was man sich im innersten Herzen wünscht. Ich befand mich in der Wüste, oder vielmehr in einer Oase, und ich sah eine prächtige Karawane kommen, Kamele mit Federbüschen und eine Schar von Mauren mit bunten Turbanen, die Trommeln und Zymbeln schlugen. Und hinter ihnen, auf einem von vier Riesen getragenen Thron mit Baldachin, kam sie , die Prinzessin. Ich kann dir nicht schildern, wie sie aussah, sie war so ... wie soll ich sagen ... so strahlend, dass ich nur einen blendenden Glanz in Erinnerung habe ...«
»Aber wie war ihr Gesicht, war sie schön?«
»Ihr Gesicht habe ich nicht gesehen, sie war verschleiert.«
»Aber in wen hast du dich dann verliebt?«
»In sie, weil ich sie nicht gesehen habe. Ich fühlte auf einmal im Herzen, hier innen, verstehst du, eine unendliche Süße, eine Sehnsucht, die seither nie wieder
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