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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Jahren lebte in einer mächtigen Stadt fern von hier eine tugendhafte und weise Frau namens Hypatia. Sie unterhielt eine Schule für Philosophie, das ist die Liebe zur Weisheit. Aber in jener Stadt lebten auch böse Menschen, die sich Christen nannten, sie hatten keine Furcht vor den Göttern und hassten die Philosophie, und besonders unerträglich war ihnen, dass es eine Frau war, die die Wahrheit kannte. Eines Tages ergriffen sie Hypatia und ließen sie unter qualvollen Martern sterben. Nur einige ihrer jüngsten Schülerinnen ließen sie am Leben, vielleicht weil sie dachten, es seien unwissende Mädchen, die bloß als Dienerinnen bei ihr waren. Sie flohen, aber inzwischen waren die Christen überall, und so mussten sie lange reisen, bis sie an diesen friedlichen Ort hier gelangten. Hier versuchten sie lebendig zu halten, was sie bei ihrer Lehrerin gelernt hatten, aber sie waren damals noch sehr jung gewesen und erinnerten sich nicht mehr an alles. So beschlossen sie, unter sich zu leben, von der Welt abgeschieden, um wiederzuentdecken, was Hypatia wirklich gesagt hatte. Denn Gott hat Spuren der Wahrheit im tiefsten Herzen einer jeden von uns gelassen, und es geht nur darum, sie auszugraben und im Licht der Weisheit erstrahlen zu lassen, so wie man das Fleisch einer Frucht von der Schale befreit.«
    Gott, die Götter, die ja wohl, wenn sie nicht der Christengott waren, falsch und lügnerisch sein mussten ... Was erzählte diese Hypatia da, fragte sich Baudolino. Aber es war ihm nicht wichtig, er brauchte sie bloß reden zu hören, und schon war er bereit, für ihre Wahrheit zu sterben.
    »Sag mir nur eines«, unterbrach er sie. »Ihr nennt euch Hypatien, nach dem Namen jener Hypatia, so viel habe ich verstanden. Aber wie heißt du?«
    »Hypatia.«
    »Nein, ich meine du als du, verschieden von einer anderen Hypatia ... Ich meine, wie nennen dich deine Gefährtinnen?«
    »Hypatia.«
    »Aber wenn du heute Abend an den Ort zurückkehrst, wo ihr lebt, und du begegnest dort einer Hypatia vor den anderen. Wie begrüßt du sie?«
    »Ich wünsche ihr einen guten Abend. So ist es üblich.«
    »Ja, aber wenn ich nach Pndapetzim zurückkomme und begegne, sagen wir, einem Eunuchen, dann sagt er zu mir: Guten Abend, o Baudolino. Du sagst: Guten Abend, oh ... was?«
    »Wenn du so willst, sage ich: Guten Abend, Hypatia.«
    »Ihr heißt alle Hypatia?«
    »Natürlich, alle Hypatien heißen Hypatia, keine unterscheidet sich von den anderen, sonst wäre sie ja keine Hypatia.«
    »Aber wenn eine Hypatia dich sucht, zum Beispiel jetzt gerade, wo du nicht dort bist, und fragt eine andere Hypatia, ob sie die Hypatia gesehen hat, die mit einem Einhorn namens Akazio herumläuft, wie sagt sie dann?«
    »Genau so, wie du gesagt hast, sie sucht die Hypatia, die mit dem Einhorn namens Akazio herumläuft.«
    Hätte Gavagai so geantwortet, wäre Baudolino versucht gewesen, ihm eine zu langen. Nicht so bei Hypatia, bei ihr dachte Baudolino im Gegenteil, wie wunderbar ein Ort sein musste, wo alle Hypatien Hypatia hießen.
     
    »Ich brauchte einige Tage, Kyrios Niketas, bis ich begriff, wer die Hypatien wirklich waren ...«
    »Also habt ihr euch weiter gesehen, nehme ich an.«
    »Jeden Tag, oder fast. Dass ich nicht mehr darauf verzichten konnte, sie zu sehen und ihr zuzuhören, wird dich nicht überraschen, aber mich erfüllte mit Staunen und mit einem unendlichen Stolz, dass auch sie glücklich war, mich zu sehen und mir zuzuhören. Ich war ... ich war wieder wie ein Kleinkind geworden, das nach der Mutterbrust sucht und weint, wenn die Mutter nicht da ist, weil es fürchtet, dass sie nicht mehr zurückkehrt.«
    »Das kommt auch bei Hunden vor, wenn ihr Herr nicht da ist. Aber diese Sache mit den Hypatien macht mich neugierig. Vielleicht weißt du ja, oder weißt es auch nicht, dass jene erste Hypatia wirklich gelebt hat, wenn auch nicht vor Tausenden von Jahren, sondern vor ungefähr acht Jahrhunderten, und zwar im ägyptischen Alexandria, zu der Zeit, als das Reich von Theodosios und dann von Arkadios regiert wurde. Sie war tatsächlich, so wird berichtet, eine Frau von großer Weisheit, versiert in Philosophie, in Mathematik und Astronomie, und sogar die Männer hingen ihr an den Lippen. Während unsere heilige Religion inzwischen in allen Teilen des Reiches triumphierte, gab es dort noch einige Widerspenstige, die das Denken der heidnischen Philosophen lebendig zu halten versuchten, besonders die Philosophie des göttlichen Platon, und ich

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