Die historischen Romane
Diesmal war es an Baudolino zu lächeln: Sie fürchtete, dass er Angst vor ihr habe! »Kommst du oft hierher?« fragte er. »Nicht immer«, antwortete sie. »Die Große Mutter will nicht, dass wir allein aus dem Wald gehen. Aber der See ist so schön, und Akazio beschützt mich«, dabei deutete sie auf das Einhorn. Dann fügte sie mit einem besorgten Blick hinzu: »Es ist spät. Ich darf nicht so lange fortbleiben. Ich dürfte auch nicht den Leuten aus Pndapetzim begegnen, wenn sie sich hierher trauten. Aber du bist keiner von ihnen, du bist ein Mensch, und niemand hat mir verboten, mit Menschen zu reden.«
»Ich komme morgen wieder«, sagte Baudolino, »aber wenn die Sonne hoch am Himmel steht. Wirst du da sein?«
»Ich weiß nicht«, sagte die Hypatia verwirrt, »vielleicht«, und verschwand lautlos zwischen den Bäumen.
In jener Nacht schlief Baudolino nicht, er hatte schon so viel geträumt – sagte er sich –, dass es genügte, sich sein ganzes Leben lang an diesen einen Traum zu erinnern. Aber am nächsten Tag, als die Sonne hoch am Himmel stand, nahm er sein Pferd und ritt wieder zu dem See.
Er wartete bis zum Abend, ohne jemanden zu sehen. Enttäuscht kehrte er nach Hause zurück, und an der Stadtgrenze traf er auf eine Gruppe Skiapoden, die mit dem Blasrohr übten. Unter ihnen war Gavagai, der zu ihm sagte: »Du schau!« Er hob das Rohr hoch, schoss einen Pfeil ab und traf einen Vogel, der nicht weit von ihnen zu Boden stürzte. »Ich großer Krieger«, sagte Gavagai, »wenn Weißer Hunne kommen, ich ihn durchbohren!« Baudolino lobte ihn und ging nach Hause, um sich sofort schlafen zu legen. In jener Nacht träumte er von der Begegnung am Vortag, und am Morgen sagte er sich, dass ein Traum allein nicht für das ganze Leben genügte.
Er ritt erneut zu dem See, setzte sich ans Wasser und lauschte dem Gesang der Vögel, die den Morgen begrüßten, danach dem Zirpen der Zikaden in der Stunde, wenn der Mittagsdämon umgeht. Aber es war nicht heiß, die Bäume verbreiteten eine angenehme Kühle, und es machte ihm nichts aus, noch weitere Stunden zu warten. Endlich erschien sie.
Sie setzte sich zu ihm und sagte, sie sei gekommen, um mehr von den Menschen zu hören. Baudolino wusste nicht, wo er anfangen sollte, und begann mit der Gegend, in der er geboren war, dann beschrieb er die Geschehnisse am Hofe Friedrichs, erklärte, was Reiche waren, wie man mit Falken zur Jagd ging, was eine Stadt war und wie man sie baute, er erzählte dieselben Dinge, die er dem Diakon erzählt hatte, allerdings unter Weglassung aller schlimmen und schlüpfrigen Geschichten, und während er redete, ging ihm auf, dass man von den Menschen sehr wohl auch ein liebevolles Bild zeichnen konnte. Sie hörte ihm zu, und ihre Augen glänzten in unterschiedlichen Farben, je nach ihrer Gefühlslage.
»Wie schön du erzählst. Können alle Menschen so schöne Geschichten erzählen wie du?« Nein, räumte Baudolino ein, vielleicht erzähle er mehr und besser als seine Artgenossen, aber es gebe unter ihnen auch die Poeten, die noch besser erzählen könnten. Und er begann, eines der Lieder von Abdul zu singen. Sie verstand die provenzalischen Worte nicht, aber sie war von der Melodie bezaubert, wie einst die Abkasianer. Jetzt glitzerten ihre Augen feucht.
»Sag mir«, bat sie ein wenig errötend, »gibt es bei den Menschen auch ... Weibchen?« Es klang, als ob sie gehört hätte, dass die Worte, die Baudolino gesungen hatte, an eine Frau gerichtet waren. Aber gewiss doch, antwortete Baudolino, so wie die Skiapoden sich mit den Skiapodinnen zusammentun, so tun sich die männlichen Menschen mit ihren Weibchen zusammen, sonst könnten sie keine Kinder zeugen, und so sei es, fügte er hinzu, im ganzen Universum.
»Das stimmt nicht«, sagte die Hypatia lachend, »die Hypatien sind nur Hypatien, und es gibt keine, wie soll ich sagen ... Hypatiusse!« Sie lachte abermals, sehr belustigt von der Idee. Baudolino fragte sich, was er tun müsste, um sie noch einmal zum Lachen zu bringen, denn ihr Lachen war der süßeste Klang, den er je gehört hatte. Er war versucht, sie zu fragen, wie denn die Hypatien auf die Welt kämen, wenn es keine Hypatiusse gebe, doch er fürchtete, ihre Unschuld zu trüben. Allerdings fühlte er sich nun ermutigt zu fragen, wer und was denn eigentlich die Hypatien seien.
»Oh«, sagte sie, »das ist eine lange Geschichte, und ich kann nicht so gut Geschichten erzählen wie du. Du musst wissen, vor Tausenden von
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