Die historischen Romane
bestreite nicht, dass sie gut daran taten, auch an uns Christen jenes Wissen weiterzugeben, das sonst verloren gegangen wäre. Nur dass dann einer der größten Christen seiner Zeit, der später ein Heiliger der Kirche wurde, Kyrillos, ein sehr gläubiger, aber auch sehr unnachgiebiger Mann, die Lehre der Hypatia als das Gegenteil des Evangeliums ansah und eine Meute von ignoranten und blutrünstigen Christen auf sie hetzte, Leute, die gar nicht wussten, was sie predigte, aber überzeugt waren, dass sie, wie Kyrillos und andere bezeugten, eine Lügnerin und liederliche Person sei. Vielleicht waren falsche Gerüchte über sie verbreitet worden, auch wenn es wahr ist, dass die Frauen sich nicht in theologische Dinge einmischen sollten. Kurzum, sie schleiften sie in einen Tempel, zogen sie nackt aus, töteten sie und zerfetzten ihren Leib mit Scherben zerbrochener Vasen, danach verbrannten sie ihren Leichnam auf einem Scheiterhaufen ... Viele Legenden haben sich um sie gebildet. Es heißt, sie sei wunderschön gewesen, aber sie habe sich der Jungfräulichkeit geweiht. Einmal habe sich ein Jüngling wahnsinnig in sie verliebt, und sie habe ihm ein Tuch mit ihrem Menstruationsblut gezeigt und gesagt, dies allein sei das Objekt seiner Begierde, nicht die Schönheit als solche ... In Wirklichkeit hat nie jemand genau erfahren, was sie lehrte. Alle ihre Schriften sind verloren gegangen, die ihre Worte gesammelt hatten, sind umgebracht worden oder hatten versucht, das Gehörte zu vergessen. Alles, was wir über sie wissen, ist von denselben heiligen Vätern überliefert worden, die sie verurteilt hatten, und ehrlich gesagt, ich als Verfasser von Chroniken und Geschichtswerken neige nicht dazu, Worten allzu viel Glauben zu schenken, die ein Feind seinem Feind in den Mund legt.«
Sie hatten noch weitere Begegnungen und viele Gespräche. Hypatia dozierte, und Baudolino wünschte sich, dass ihre Lehre allumfassend und nie zu Ende wäre, um immer weiter an ihren Lippen hängen zu können. Sie antwortete auf alle seine Fragen mit furchtloser Offenheit, ohne je zu erröten; nichts war für sie Gegenstand irgendwelcher unreinen Verbote, alles war transparent.
Schließlich wagte es Baudolino, sie zu fragen, wie sich die Hypatien seit so vielen Jahrhunderten fortpflanzten. Sie antwortete, jedes Jahr wähle die Große Mutter einige von ihnen aus, die gebären sollten, und begleite sie zu den Befruchtern. Über diese äußerte sie sich sehr vage, natürlich hatte sie niemals einen von ihnen gesehen, aber auch die dem Ritus geweihten Hypatien hätten sie niemals gesehen. Sie würden bei Nacht an einen unbekannten Ort geführt, bekämen dort einen Trank verabreicht, der sie bewusst- und gefühllos machte, würden befruchtet, kehrten danach in ihre Gemeinschaft zurück, und diejenigen, die schwanger geworden waren, würden von ihren Genossinnen bis zur Niederkunft umsorgt und gepflegt. War die Frucht ihres Leibes ein männliches Kind, so wurde es den Befruchtern zurückgegeben, war es ein weibliches, blieb es in der Gemeinschaft und wurde als eine Hypatia erzogen.
»Sich fleischlich vereinigen«, sagte Hypatia, »wie es die Tiere tun, die keine Seele haben, heißt nur, den Irrtum der Schöpfung vervielfältigen. Die Hypatien, die zu den Befruchtern geschickt werden, nehmen diese Erniedrigung nur hin, weil wir weiterexistieren müssen, um die Welt von diesem Irrtum zu erlösen. Diejenigen von uns, die die Befruchtung erlitten haben, erinnern sich an nichts von diesem Vorgang, der, wäre er nicht im Geiste des Opfers vollzogen worden, unsere Apathie beeinträchtigt hätte ...«
»Was ist eure Apathie?«
»Das, worin jede Hypatia lebt und glücklich ist.«
»Und wieso Irrtum der Schöpfung?«
»Aber Baudolino«, sagte sie mit erstauntem Lachen, »scheint dir, dass die Welt vollkommen ist? Schau diese Blume hier, schau, wie zart der Stengel ist, schau dieses poröse Auge, das in der Blüte triumphiert, schau, wie gleichmäßig die Blütenblätter sind, alle ein wenig gebogen, um morgens den Tau aufzufangen wie in einer Schale, schau, mit welcher Freude sie sich diesem Insekt darbietet, das ihre Lymphe saugt ... Ist das nicht schön?«
»Ja, es ist wirklich schön. Aber ist es denn nicht gerade schön, dass es schön ist? Ist es nicht ein Wunder Gottes?«
»Baudolino, morgen früh ist diese Blume tot, in zwei Tagen ist sie verfault. Komm mit.« Sie führte ihn ins Unterholz und zeigte ihm einen roten Pilz mit flammendgelben
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