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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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kann man für die Seele von jemandem beten, der einen von seiner Wand herab anstarrt, als wollte er sagen: ›Hier bin ich und hier werde ich bleiben‹, wie kann man an die Auferstehung des Fleisches glauben und an die Verklärung unserer irdischen Leiber nach dem Jüngsten Gericht, wenn diese Leiber noch da sind, jeden Tag hässlicher als am vorigen? Ich habe in meinem Leben nur allzu viele Leichen gesehen, aber wenigstens konnte ich hoffen, dass sie, nachdem sie sich in der Erde aufgelöst hatten, eines Tages schön und blühend wie eine Rose erstrahlen würden. Wenn dort droben nach dem Ende der Zeiten Leute wie diese hier umgehen sollten, so sagte ich mir, dann lieber die Hölle, die uns mit ihrem Feuer und ihren Spießen und Zangen doch wenigstens ein Abbild dessen gibt, was hier bei uns auf Erden geschieht ... Der Boidi, weniger sensibel für die letzten Dinge als ich, versuchte jene Gewänder zu lupfen, um zu sehen, in welchem Zustand die Gemächte der Mumien waren, aber wenn dir jemand das eine zeigt, wie kannst du dich dann beschweren, wenn anderen das andere in den Sinn kommt?«
     
    Noch bevor sie das Ende der Katakomben erreichten, gelangten sie in einen runden Raum, in dessen gewölbter Decke durch eine kaminartige Öffnung hoch oben der nachmittägliche Himmel zu sehen war. Offenbar diente ein Brunnen auf Bodenhöhe zur Belüftung der Anlage. Sie löschten die Fackeln. Nicht länger von zuckenden Flammen beleuchtet, sondern von jenem fahlen Licht, das sich zwischen den Nischen verbreitete, wirkten die Leiber der Mönche noch beunruhigender. Man konnte meinen, dass sie, vom Licht des Tages berührt, sich zu regen begannen.
    Endlich mündete der Gang, den die beiden genommen hatten, in den Umgang hinter den Säulen rings um die Krypta, in der sie beim ersten Mal Zosimos gesehen hatten. Sie näherten sich auf Zehenspitzen, denn da waren Lichter zu sehen. Die Krypta wurde, wie damals, von zwei Glutbecken auf Dreifüßen beleuchtet. Es fehlte nur das runde Wasserbecken, das Zosimos für seine Wahrsagerei benutzt hatte. Vor der Ikonostase standen bereits, nervös wartend, Boron und Kyot. Baudolino flüsterte dem Boidi zu, er solle zwischen den beiden Säulen neben der Ikonostase hervortreten, als ob er denselben Weg wie die beiden gegangen wäre; er selbst werde sich versteckt halten.
    Der Boidi tat, wie ihm geheißen, und die beiden empfingen ihn ohne Überraschung. »Also hat der Poet auch dir erklärt, wie man hierherkommt«, sagte Boron. »Wir glauben, Baudolino hat er es nicht gesagt, wozu sonst all die Vorsichtsmaßnahmen? Hast du eine Ahnung, warum er uns hierherbestellt hat?«
    »Er hat von Zosimos und vom Gradal gesprochen, und er hat mir gegenüber seltsame Drohungen angedeutet.«
    »Uns gegenüber auch«, sagten Kyot und Boron.
    Plötzlich hörten sie eine Stimme, und sie schien aus dem Mund des Pantokrators auf der Ikonostase zu kommen. Baudolino sah genauer hin und entdeckte, dass die Augen jenes Weltenherrschers zwei schwarze Mandeln waren, was darauf schließen ließ, dass jemand hinter der Ikone stand und das Geschehen in der Krypta beobachtete. Obgleich entstellt, war die Stimme erkennbar – es war die des Poeten. »Willkommen«, sagte sie. »Ihr seht mich nicht, aber ich sehe euch. Ich habe einen Bogen, und ich könnte euch auf der Stelle durchbohren, wenn ich wollte.«
    »Aber wieso denn, Poet, was haben wir denn getan?« fragte Boron erschrocken.
    »Was ihr getan habt, wisst ihr besser als ich. Aber kommen wir zur Sache. Tritt hervor, Elender.« Man hörte ein ersticktes Stöhnen, und hinter der Ikonostase trat eine schwankende Gestalt hervor.
    Obwohl es so viele Jahre her war, obwohl die Gestalt sich krumm und gebeugt dahinschleppte, obwohl die Haare und der Bart inzwischen schlohweiß waren, erkannten sie Zosimos.
    »Jawohl, es ist Zosimos«, sagte die Stimme des Poeten. »Ich bin ihm gestern ganz zufällig begegnet, während er bettelnd eine Straße entlangging. Er ist blind und verkrüppelt, aber er ist es. Zosimos, erzähle unseren Freunden, wie es dir ergangen ist seit deiner Flucht aus Ardzrounis Burg.«
    Mit klagender Stimme begann Zosimos zu erzählen. Ja, er hatte den Täuferkopf gestohlen, in dem der Gradal versteckt war, und hatte sich mit ihm davongemacht, aber eine Karte von Kosmas hatte er nicht nur niemals besessen, sondern auch nie gesehen, und so hatte er nicht gewusst, wohin er sich wenden sollte. Er war umhergezogen, bis ihm das Maultier gestorben war, er hatte sich

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