Die historischen Romane
der Abrechnung
Baudolino und der Boidi erreichten die Gegend des Hippodroms, als die Flammen des Brandes schon nahten und eine Schar verstörter Bürger bedrängten, die nicht wussten, nach welcher Seite sie fliehen sollten, weil einige schrien, die Pilger kämen von rechts, und andere, sie kämen von links. Die beiden fanden den Pavillon, brachen die mit einer schwachen Kette gesicherte Tür auf, stiegen in einen unterirdischen Gang hinunter und entzündeten die Fackeln, die ihnen Boiamondo mitgegeben hatte.
Sie mussten ein langes Stück wandern, der Gang führte offenbar vom Hippodrom zur Konstantinsmauer. Nach einer Weile ging es ein paar feucht-glitschige Stufen hinauf, und langsam stieg ihnen ein dumpfer, an Tod gemahnender Modergeruch in die Nase, der immer stärker wurde. Es war kein Geruch von kürzlich verstorbenen Toten, es war, wenn man so sagen kann, ein Modergeruch von Vermodertem, ein Geruch von lange schon toten Toten, die verwest und gleichsam zu Mumien geschrumpft waren.
Sie traten in einen Gang – und sahen rechts und links ähnliche Gänge abzweigen –, in dessen Wänden sich dicht an dicht Nischen auftaten, bewohnt von einer unterirdischen Population fast noch lebendig wirkender Toter. Tote waren es zweifellos, diese vollständig bekleideten Gestalten, die da aufrecht in ihren Wandvertiefungen standen, vielleicht mit Eisenstäben im Rücken gehalten; aber die Zeit schien ihr Zerstörungswerk nicht vollendet zu haben, denn diese eingefallenen, lederfarbenen Gesichter mit leeren Augenhöhlen, oft gezeichnet durch ein zahnloses Grinsen, erweckten einen seltsamen Eindruck von Leben. Es waren keine Skelette, sondern ausgetrocknete Leiber, verdorrt, als hätte eine Kraft von innen heraus die Eingeweide und alles übrige aufgezehrt, um nur die Knochen mit der Haut darüber und vielleicht einen Teil der Muskeln übrig zu lassen.
»Kyrios Niketas, wir waren in einen Katakombenfriedhof gelangt, in dem die Mönche von Katabate jahrhundertelang ihre gestorbenen Mitbrüder beigesetzt hatten, ohne sie zu beerdigen, denn eine wundersame Verbindung des Bodens, der Luft und einer Substanz, die aus den Tuffsteinwänden dieser unterirdischen Gänge tropfte, bewahrte sie vor dem Zerfall.«
»Ich dachte, das sei schon lange nicht mehr Brauch, und von den Katakomben des Katabateklosters hatte ich keine Ahnung – woran man sieht, dass diese Stadt noch Geheimnisse birgt, die niemand von uns kennt. Aber ich habe davon gehört, wie bestimmte Mönche in früheren Zeiten, um das Werk der Natur zu beschleunigen, die Leichen ihrer gestorbenen Mitbrüder acht Monate lang zwischen den Ausdünstungen des Tuffsteins modern ließen, sie dann herausholten, mit Essig abwuschen, einige Tage der frischen Luft aussetzten, sie bekleideten und wieder in ihre Nischen stellten, auf dass die in gewisser Weise balsamische Luft dieser Umgebung sie ihrer gleichsam geräucherten Unsterblichkeit übergebe.«
Während sie weiterschritten, vorbei an jener langen Reihe verstorbener Mönche, alle mit liturgischen Gewändern bekleidet, als müssten sie noch ihres Amtes walten, funkelnde Ikonen küssend mit ihren fahlen Lippen, entdeckten sie Gesichter mit verzerrtem und asketischem Lächeln, andere, denen die Pietät der Weiterlebenden Bärte angeklebt hatte, so dass sie würdig wie einst erschienen, und deren Lider geschlossen waren, so dass sie zu schlafen schienen, wieder andere, bei denen der Kopf zu einem Totenschädel reduziert war, aber mit ledrigen Hautfetzen an den Wangenknochen. Einige hatten sich im Lauf der Jahrhunderte verformt und sahen aus wie Launen der Natur, missratene Föten, nichtmenschliche Wesen, auf deren verkrümmter Gestalt sich Messgewänder unnatürlich abhoben, arabeskenverzierte Kaseln in verblassten Farben, Dalmatiken, die aussahen wie mit Stickereien verziert, aber sie waren vom Zahn der Zeit und von Katakombenwürmern zernagt. Bei wieder anderen waren die Gewänder zerschlissen, zerbröselt in den Jahrhunderten, und unter den Fetzen ihrer Paramente erschienen abgemagerte Körperchen, die Rippen überzogen mit einer straff wie das Fell einer Trommel gespannten Haut.
»Mag sein, dass es Pietät war, was zu dieser heiligen Inszenierung geführt hatte«, sagte Baudolino zu Niketas, »aber pietät- und gnadenlos waren die Überlebenden, die das Gedenken an jene Toten als eine permanente Drohung inszeniert hatten, die nicht im geringsten dazu angetan war, die Lebenden mit dem Tod zu versöhnen. Wie
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