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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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durch die unwirtlichsten Gegenden der Welt geschleppt, die Augen brennend von der Sonnenglut, so dass er die Himmelsrichtungen nicht mehr unterscheiden konnte. Dann war er in eine von Christen bewohnte Stadt gekommen, wo er Hilfe und Aufnahme fand. Er hatte sich als der letzte der Magier vorgestellt, die anderen hätten inzwischen den Frieden des Herrn gefunden und ruhten in einer Kirche im fernen Abendland. Er hatte in feierlichem Ton erklärt, in seinem Reliquiar befinde sich der Heilige Gradal, den er dem Priester Johannes übergeben müsse. Seine Gastgeber hatten gerüchteweise von beidem gehört, sie warfen sich ihm zu Füßen und führten ihn dann in feierlicher Prozession zu ihrem Tempel. Dort nahm er auf einem Bischofsschemel Platz und sprach jeden Tag Orakel, gab Ratschläge über den Gang der Dinge, aß und trank nach Herzenslust und wurde allseits geachtet.
    Kurzum, als letzter der allerheiligsten Könige und Hüter des Heiligen Gradals war er zur höchsten geistlichen Autorität jener Gemeinde geworden. Jeden Morgen las er die Messe, und im Moment der Elevation zeigte er außer Hostie und Kelch auch sein kopfförmiges Reliquiar, und die Gläubigen knieten nieder und meinten, himmlische Düfte zu riechen.
    Sie brachten auch die gefallenen Frauen zu ihm, damit er sie auf den rechten Weg zurückbringe. Er sagte ihnen, dass Gottes Barmherzigkeit grenzenlos sei, und versammelte sie zur Abendzeit in der Kirche, um mit ihnen, wie er sagte, in ununterbrochenem Gebet die Nacht zu verbringen. Es hieß, er habe diese Unseligen in lauter Magdalenen verwandelt, die sich in seinen Dienst gestellt hätten. Tagsüber bereiteten sie ihm die köstlichsten Speisen, brachten ihm die erlesensten Weine und salbten ihn mit duftenden Ölen; nachts beteten sie mit ihm so inbrünstig vor dem Altar, sagte Zosimos, dass seine Augen am nächsten Morgen gerötet waren von dieser Buße. Zosimos hatte endlich sein Paradies gefunden und war entschlossen, diesen gesegneten Ort nie mehr zu verlassen.
    Er hielt in seiner Erzählung inne und seufzte tief auf, dann fuhr er sich mit der Hand über die Augen, als sähe er in deren Dunkel immer noch eine höchst schmerzliche Szene vor sich. »Meine Freunde«, sagte er, »bei jedem Gedanken, der euch kommt, fragt ihn stets: Bist du einer der Unseren oder kommst du vom Feind? Ich vergaß, diese heilige Maxime zu befolgen, und versprach der ganzen Stadt, zu Ostern das Reliquiar zu öffnen und den Gradal zu zeigen. Am Karfreitag öffnete ich den Kopf für mich allein und fand darin einen jener widerwärtigen Totenschädel, die Ardzrouni hineingetan hatte. Ich schwöre es euch: Ich hatte den Gradal im ersten Kopf links versteckt, und genau den ersten links hatte ich dann genommen, als ich mich aus der Burg davonmachte. Aber irgendwer, sicher einer von euch, muss die Köpfe vertauscht haben, denn der, den ich genommen hatte, enthielt nicht mehr den Gradal. Wer ein Eisen schmiedet, überlege sich vorher, was er daraus machen will, ob eine Sichel, ein Schwert oder eine Axt. Ich beschloss zu schweigen. Pater Agaton hat drei Jahre mit einem Stein im Munde gelebt, bis es ihm nicht mehr gelang, sein Schweigegelübde zu halten. Ich sagte allen, ich sei von einem Engel des Herrn besucht worden, der mir gesagt habe, es lebten noch zu viele Sünder in der Stadt und darum sei noch niemand würdig, jenen hochheiligen Gegenstand zu sehen. Den Karsamstagabend verbrachte ich, wie es sich für einen ehrbaren Mönch gehört, in frömmster Kasteiung, vielleicht in übertriebener, denn am nächsten Morgen fühlte ich mich total erschöpft, als hätte ich die ganze Nacht – Gott vergebe mir den bloßen Gedanken – mit Saufen und Huren verbracht. Ich zelebrierte die Messe schwankend, und in dem feierlichen Moment, in dem ich das Reliquiar den Gläubigen zeigen sollte, stolperte ich auf der obersten Stufe des Altars und stürzte hinunter. Das Reliquiar glitt mir aus der Hand, beim Aufprall am Boden sprang es auf, und alle sahen, dass es keineswegs einen Gradal enthielt, sondern bloß einen verschrumpelten Schädel. Nichts ist ungerechter als die Strafe für den Gerechten, der einmal gesündigt hat, meine Freunde, denn dem schlimmsten der Sünder vergibt man die letzte der Sünden, aber dem Gerechten nicht einmal die erste. Die frommen Leute meinten, sie seien von mir betrogen worden – von mir, der noch bis vor drei Tagen, Gott war mein Zeuge, in treuestem Glauben gehandelt hatte! Sie fielen über mich her, rissen mir

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