Die historischen Romane
ich ein Erzengel unter Erzengeln, sagte ich: Der Gerechtigkeit ist Genüge getan, ich habe den Mörder des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches gerichtet.«
Baudolino ging sein Reliquiar holen, nahm den Gradal heraus, zeigte ihn vor, wie man eine geweihte Hostie zeigt, und sagte nur: »Erhebt einer von euch darauf Ansprüche?«
»Baudolino«, sagte Boron, dem es immer noch nicht gelang, seine Hände ruhig zu halten, »heute Abend habe ich mehr durchgemacht als in all den Jahren, die wir zusammen verbracht haben. Es ist sicher nicht deine Schuld, aber etwas ist zwischen uns zerbrochen, zwischen dir und mir, zwischen Kyot und mir, zwischen Boidi und mir. Noch vor kurzem hatte sich jeder von uns, wenn auch nur für einige Augenblicke, glühend gewünscht, dass der andere der Schuldige sei, um den eigenen Schuldvorwürfen ein Ende zu setzen. Das ist keine Freundschaft mehr. Nach dem Fall von Pndapetzim sind wir nur umständehalber zusammengeblieben. Was uns zusammenhielt, war die Suche nach dem Gegenstand, den du da in der Hand hältst. Die Suche danach, sage ich, nicht der Gegenstand selbst. Jetzt weiß ich, dass der Gegenstand die ganze Zeit über bei uns war, und das hat uns nicht daran gehindert, mehrmals beinahe in unser Verderben zu laufen. Heute Abend habe ich begriffen, dass ich den Gradal nicht haben darf, auch nicht, um ihn jemandem zu geben, sondern dass ich nur die Flamme der Suche nach ihm am Leben erhalten muss. Also behalte das Ding, es hat nur dann die Macht, die Menschen mitzureißen, wenn man es nicht findet. Ich gehe fort. Ich werde versuchen, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen, dann werde ich anfangen, über den Gradal zu schreiben, und meine einzige Macht wird in meiner Erzählung liegen. Ich werde über bessere Ritter als uns schreiben, und wer mich liest, wird von der Reinheit träumen, nicht von unserem Elend. Lebt wohl, ihr alle, meine verbliebenen Freunde. Nicht wenige Male war es schön, mit euch zu träumen.« Er drehte sich um und verschwand auf dem Weg, den er gekommen war.
»Baudolino«, sagte Kyot, »ich glaube, dass Boron die richtige Wahl getroffen hat. Ich bin kein Gelehrter wie er, ich weiß nicht, ob ich die Geschichte des Gradals schreiben könnte, aber bestimmt werde ich jemanden finden, dem ich sie erzählen kann, damit er sie schreibt. Boron hat recht, ich werde meiner seit so vielen Jahren betriebenen Suche treu bleiben, wenn ich andere dazu bringe, sich den Gradal zu wünschen. Ich werde auch nicht mehr von dem Gefäß sprechen, das du da in der Hand hältst. Vielleicht werde ich sagen, der Gradal sei ein vom Himmel gefallener Stein. Ob Kelch oder Stein oder Lanze, was bedeutet das schon. Worauf es ankommt, ist, dass niemand ihn findet, sonst würden die anderen aufhören, nach ihm zu suchen. Wenn du auf mich hören willst: Versteck das Ding da, damit niemand den Traum davon tötet, indem er es in Besitz nimmt. Und im übrigen, auch ich würde mich unwohl fühlen, wenn ich bei euch bliebe, zu viele leidvolle Erinnerungen würden mich plagen. Du, Baudolino, bist ein Racheengel geworden. Vielleicht musstest du tun, was du getan hast. Aber ich will dich nicht mehr sehen. Leb wohl.« Und damit ging auch er aus der Krypta.
Da sprach der Boidi, und nach so vielen Jahren begann er wieder in der heimischen Sprache der Frascheta zu sprechen. »Baudolino«, sagte er, »ich habe nicht den Kopf in den Wolken wie jene beiden, und Geschichten kann ich nicht erzählen. Dass die Leute rumlaufen, um nach etwas zu suchen, was es nicht gibt, darüber kann ich nur lachen. Die Dinge, auf die es ankommt, sind die, die es gibt, nur darfst du sie nicht jedem zeigen, denn die Eifersucht ist eine hässliche Bestie. Dieser Gradal da ist ein heiliges Ding, glaub mir, denn er ist schlicht und einfach wie alle heiligen Dinge. Ich weiß nicht, wohin du ihn tun willst, aber jeder Ort außer dem, den ich dir jetzt sagen werde, wäre der falsche. Hör zu, was mir eingefallen ist. Nach dem Tod deines armen Vaters Gagliaudo selig, erinnerst du dich, da hatten doch alle in Alexandria angefangen zu sagen, wer eine Stadt rettet, der soll eine Statue kriegen. Aber du weißt ja, wie es dann geht: Man redet, man redet, und nie kommt was Rechtes zustande. Ich hatte jedoch bei meinen Rundreisen als Getreidehändler in einer halbverfallenen kleinen Kirche nahe bei Villa del Foro eine wunderschöne Statue gefunden, wer weiß, wo die herkam. Sie stellt einen gebeugten alten Mann dar, der mit den
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