Die Hoehle der Traenen
Geister, die bereits hier gewesen waren, stellten die neuen Geister in Reihen auf, als wollten sie sie zum Appell rufen. Dann sah Bramble, dass sich vorn vor jeder Reihe jeweils ein Mensch befand, der an allen vieren gefesselt worden und völlig verängstigt war. Neben jedem Gefangenen stand ein Geist mit einem Messer. Zwei Geister, ein großer Mann und ein kleiner mit dem perlenbesetzten Haar von Hawks Sippe, machten sich offenbar ein Bild davon, wie hoch die Sonne am Himmelszelt stand und nickten dann den Geistern vorne in den Reihen zu. Diese bückten sich daraufhin gleichzeitig, schnitten in den Arm des vor ihnen knienden Menschen, um das hervorquellende Blut zu schmecken.
Bramble ließ die Augen über die Szene wandern. Sie nahm die sich vor ihr abspielende Zeremonie in sich auf, und ihr Magen verkrampfte sich. Blut war Teil des Zauberspruchs. Blut, damit die Geister nicht verblassten, Blut, um ihnen Stärke zu verleihen. Einige der neuen Geister hielten sich zurück, da es ihnen wohl widerstrebte, das Blut eines lebendigen Opfers zu schmecken.
Der Zauberer ging auf sie zu, um zu ihnen zu sprechen. Unterstützt wurde er dabei von einem Wanderer. Es war ein Mädchen. Zel.
Bramble starrte verständnislos auf sie. Wie konnte Zel das
tun? Warum sollte sie? War das hier ein Komplott der Quelle der Geheimnisse? So musste es sein. Zel spionierte wahrscheinlich im Auftrag der Stadt. Das konnte nützlich sein. Und es bedeutete, dass Safred und Martine hier waren, was ein gutes Zeichen sein musste.
»Nehmt euch vor dem Sonnenuntergang Blut«, rief der Zauberer den Geistern zu. »Es wird euch davor schützen, zu verblassen. Aber ihr braucht nicht nur Blut, ihr braucht auch Erinnerung. Blut und Erinnerung werden euch helfen, nicht zu verblassen, damit ihr eure Rache nehmen könnt.« Einige wirkten verwirrt, woraufhin seine Stimme schrill wurde. »Andernfalls kehrt ihr zurück in die Dunkelheit jenseits des Todes.«
Bramble wartete nicht ab, ob sie sich würden überzeugen lassen. Acton brauchte Blut, und zwar sofort.
Sie kletterte den Hang hinab und suchte tastend nach ihrem Gürtelmesser. Acton war frei und stand nun da, mit den Schultern kreisend, als müsse er sie sich wieder einrenken.
Sie schnitt sich gleich oberhalb des Handgelenks in den Arm und streckte ihn Acton entgegen. Verblüfft starrte er sie an.
»Blut und Erinnerung werden verhindern, dass du bei Sonnenuntergang verblasst«, sagte sie. »Der Zauberer gibt all seinen Geistern Blut, und auch du musst es trinken, wie bei der Zeremonie eines Wiedergangs.«
Sein Volk hatte keinen Wiedergang gekannt. Wie auch das Steinedeuten existierte er ausschließlich in den Domänen. Acton schüttelte verständnislos den Kopf.
Baluch legte ihm eine Hand auf den Arm. »Nimm das Blut, Acton. Wir brauchen dich.«
Sie sah ihm an, dass es ihm schwerfiel. Wieder einmal wurde sie von heftiger Ungeduld ihm gegenüber erfüllt. Wieso
konnte er denn nicht begreifen , was geschah? »Trink einfach das Blut, du Idiot!«, fuhr sie ihn an.
Nun erhellten sich seine Augen vor Lachen, und er bückte sich gehorsam und legte die Zunge auf ihre Haut. Sie schauderte heftig, als er sie mit seiner Todeskälte berührte, wurde jedoch zugleich von plötzlichem Verlangen durchdrungen; ihr wurde gleichermaßen heiß und kalt, und sie fing an zu zittern. Seine Augen lachten nun nicht länger, er schluckte ihr Blut und starrte sie ebenfalls voller Verlangen an. Baluch wandte sich ab.
Acton streckte die Hand aus, um ihre Wangen zu streicheln; doch statt sie zu berühren, wölbte er nur seine Handfläche, sodass seine Finger der Linie ihrer Wangenkochen folgten, ohne ihre Haut zu berühren. Langsam und traurig schüttelte er den Kopf.
Verlangen erfüllte ihre Brust, doch er hatte Recht. Es würde keinen Raum für sie beide geben, nicht in diesem Leben. Vielleicht auch in keinem anderen. Sie wandte sich ab, gegen ihre Tränen ankämpfend.
»Acton kann sich den Geistern entgegenstellen und seine Schuld anerkennen«, sagte Baluch nachdenklich. »Aber das Zeremoniell der Wiedergeburt erfordert Blut.«
Acton und er wechselten Blicke. Diesem Gesichtsausdruck traute Bramble nicht; sie kannte ihn zu gut. »Was?«, wollte sie wissen.
»Ich glaube, wenn wir gegenüber den um ihr Land Beraubten ein Eingeständnis machen, dann sollte ich es sein, der Blut anbietet«, sagte Baluch langsam.
Bramble überkam das heftige Verlangen, ihm zu widersprechen. Sollen das doch die Kriegsherren machen! Das waren
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