Die Hoehle der Traenen
kannte die Schwächen der Höhlenwesen; sie lösten sich nicht in der Luft auf, sie kamen weder durch Schwert oder Speer noch durch Feuer oder Wasser oder menschliche Angriffe zu Schaden. Ash sammelte seinen Mut und rannte auf den Altar zu, wobei er über den Kreis der Höhlenwesen sprang und dabei den Rücken dem Altar zuwandte.
Safred und Martine rafften ihre Röcke bis zu den Knien auf und sprangen ebenfalls, sich so nahe wie möglich an den Altar drängend. Safred sprach mit der Stimme der Toten, die Sprache der Heiler, nun eine Kampfansage verkündend. Ash hatte den Eindruck, als hätten die Höhlenwesen sich desinteressiert abgewandt, obwohl die Gestalten sich nicht wirklich umdrehten. Sie bewegten sich weiter zielstrebig auf den Altar zu.
»Wir müssen das Abkommen wieder verstärken!«, sagte er zu Safred.
»Ich wüsste nicht, wie!«, klagte sie.
»Es ist verletzt worden.« Er schüttelte sie an der Schulter. »Heile es!«
»Ich bin leer! Seit das Schiff … Ich bin leer!«
Er wusste zwar nicht, wovon sie sprach, aber sie mussten jetzt etwas unternehmen, sonst würde es zu spät sein. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und übertrug ihr seine Stärke, wie er es getan hatte, als Bramble im Sterben gelegen hatte.
»Ich bin voll«, sagte er. »Benutze mich. Du hast es schon einmal getan.«
Sie legte ihre Handflächen auf den Altar und schloss
die Augen. Ash stand hinter ihr und hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt. Auch Ash schloss nun die Augen und spürte sofort die Risse in dem alten Zauber. Hinter ihnen herrschte Chaos. Safred begann zu singen, wobei ihre raue Stimme die Luft durchschnitt.
Ash streckte seine Fühler nach dem Fluss aus, um zu sehen, ob sie ihm Kraft verleihen konnte. Doch sie war weit weg. Er spürte einen sonderbaren Zwiespalt von ihrer Seite und erkannte schockiert, dass die Wassergeister ihre Geschöpfe waren, aus ihr geboren und ausschließlich in ihr lebend. Darüber würde er später noch nachdenken. Nun wandte er seine Aufmerksamkeit Safred zu und ließ so viel Kraft in sie strömen, wie er aufbringen konnte. Ihr wohnte eine seltsame Leere inne, eine Hohlheit im Mittelpunkt ihrer Gegenwart, doch diese war umgeben von Kraft und Stärke, und zu dieser lenkte er sie, bediente sich ihrer selbst und führte sie dann zu ihr weiter.
Er mochte ein Mörder sein, aber er konnte auch beim Heilen behilflich sein.
Safreds Lied wand sich in den Altar, in den Zauber selbst, doch es war, als sei es so substanzlos wie die Luft, die sie benutzte, um es zu formen. Es bewirkte nichts, sondern sickerte lediglich zwischen den Felsspalten ein und löste sich auf.
Sie hörte auf zu singen und sah Ash verzweifelt an. Die Höhlenwesen hatten sich zwar verlangsamt, rückten aber nichtsdestotrotz weiter vor und waren nun näher denn je, innerhalb des Kreises, den der Schatten der Eiche bildete.
Martine nahm Safred an die Hand. »Versuchen wir es noch einmal.«
Sie schlossen die Augen, und Safred begann erneut zu singen. Als das Lied dieses Mal nach unten sickerte, war jetzt auch Martines Stärke zu spüren. Sie ergriff das Wort.
»Es ist wie der Zauber, der andere Geister fernhalten soll«,
flüsterte sie. Die Worte waren wie ein Schrei in Ashs Ohr. »Safred, er geht so: ›Geister, kommet nicht in mein Haus; Geister, seid verbannt aus meinem Haus; Geister, tretet nicht über meine Tür.‹«
Erstaunt begriff Ash, dass sie die gleichen fünf Noten sang, die Doronit ihn gelehrt hatte, damit er die Windgeister wegschicken konnte.
Safred sang die gleiche Melodie, doch die Risse vergrößerten sich zunehmend. Safred strengte sich so sehr an, dass sie eine heisere Stimme bekam. Ash erkannte, dass der Zauber um das Abkommen mehrschichtig war. Er war wie ein Tuch mit vier Schichten, und die unterste Schicht löste sich auf. Deshalb konnten die Höhlenwesen direkt in die Stadt kommen, während die Feuer- und Windgeister noch immer draußen verbannt blieben. Aber um zu dieser Schicht zu gelangen, um sie zu flicken, musste Safred durch die oberen Schichten dringen, und nur dort, wo die Risse am tiefsten waren, konnte sie das tun, ohne noch mehr Schaden anzurichten.
»Das Lied ist nicht richtig!«, sagte Ash. »Es gibt vier Schichten. Es muss vier … irgendwas geben.«
Sie hielten einen Moment inne, und Safreds Lied verklang. Sie spürten, wie der alte Zauber ständig weiter auseinanderbrach, und das Geräusch der sich durch die Erde mahlenden Höhlenwesen wurde von Moment zu Moment
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