Die Hoehle der Traenen
»Schau sie an. Jeder von ihnen ist verletzt worden. Jeder von ihnen ist gestorben. Jeder von ihnen hat getrauert.« Seine Stimme spiegelte immer mehr seine Gefühle wider, jeder Satz wurde lauter und dunkler. Wut kochte in ihm hoch, so wie Donner sich langsam vor einem Sturm aufbaut. Er ließ ihr freien Lauf: »Du kannst nicht um Vergebung bitten, wenn du das Böse nicht kennst, das du getan hast!«
Er wirbelte zu Ash herum und umklammerte ihn an den Schultern. »Lass sie sprechen!«, bat er ihn flehentlich. »Lass sie alle sprechen! Lass sie die wahre Geschichte dessen erzählen, was geschehen ist. Damit alles in Erinnerung bleibt.«
Die Geister hörten aufmerksam zu. Saker ließ Ash los, ging in die Mitte des Kreises und drehte sich so, dass er sie alle sehen konnte.
»Ihr müsst gehört werden!«, rief er. »Man muss auf euch hören! Der Mord an euch war eine Untat, die nie hätte geschehen dürfen. Aber eure Geschichten können erzählt werden. Eure Geschichten können in Erinnerung bleiben!«
Zögernd stampften die Geister zum Zeichen ihrer Zustimmung mit den Füßen.
»Komm«, sagte Saker zu Acton. »Komm und höre.«
Acton ging auf ihn zu und stellte sich neben ihn, und Ash trat einen Schritt vor. Ash, sein erster echter Verbündeter.
»Sprecht«, sagte Ash leise und voller Inbrunst. Dabei drehte er sich so um, dass er sie alle sehen konnte. »Sprecht.«
Wie ein Mann machten alle den Mund auf und sprachen mit den schrecklichen Stimmen der Toten.
Ash
Das Stimmengewirr ertönte so laut, so gewaltig, dass Ash taumelnd zu Boden fiel. Auch Saker verlor das Gleichgewicht. Acton bot ihm seinen Arm, um ihn zu stützen. Die Stimmen stachen ihm wie Messer in den Kopf. Das war nicht das, was er gewollt hatte; bei diesem Lärm konnte niemand etwas hören.
»Ruhe!«, rief Ash laut.
Die Stille, die nun folgte, war wie das Klingeln in den Ohren, nachdem man eine Ohrfeige bekommen hat. Ash benötigte Rat, und es gab nur einen, der ihn geben konnte. Er stemmte sich auf und suchte die Menge nach Doronit ab.
Als sie erkannte, dass er sie brauchte, lächelte sie boshaft.
»Doronit«, sagte er. »Kennst du eine Möglichkeit, ihnen ihre eigene Stimme wieder zurückzugeben?«
Sie deutete auf ihren Mund, woraufhin Ash errötete. »Sprich«, sagte er. Dabei rechnete er damit, sie werde sich weigern, ihm zu helfen. Doch sie meinte es ernst.
»Ich weiß nur, was mir einmal ein Windgeist erzählt hat«, sagte sie. »Um ihnen ihre Stimme zurückzugeben, muss man erst die eigene finden.«
»Meine Stimme ist die ihre«, sagte Ash und kam sich dabei töricht vor, so als hätte er in ihren Worten eine Antwort finden müssen. Aber der Gedanke hatte eine Tür in seinem
Kopf geöffnet: Ash wusste, was zu tun war, und das war etwas, das er vor seiner Begegnung mit dem Fluss nie hätte tun können. Er fing an zu summen, jene Note, die er und Baluch benutzt hatten, um das Wasser in der Höhle anzurufen – ihre Note -, und dann sang er das einzelne Wort »Sprich«.
Als er bemerkte, dass der Klang seiner Stimme die anderen zusammenzucken ließ, schloss er die Augen. Dies hier hatte nichts mit ihnen zu tun und irgendwie auch nichts mit dem Fluss. Die Geister sprachen mit der Stimme der Toten, weil sie jedweden menschlichen Kontakt, jede Verbindung hinter sich gelassen hatten. Sie waren kalt.
Der Weg zu seiner Stimme, zu ihrer aller Stimmen verlief über die schlichte Wärme, die ihn Martine verspüren ließ, über das Vertrauen in Brambles Blick, über die Erinnerung an das Daumen lutschende Baby Ash an jenem Tag, an dem sie das Hidden Valley verlassen hatten. Er verlief über Dremas Geschenk des Filzmantels und Baluchs Kameradschaft. Sogar über die gegenseitige Verbundenheit beim Trommeln für seine Eltern, welche die drei in der Musik vereinte. Und über die Begrüßung und die Aufnahme durch den Fluss.
An diese Dinge denkend, sang er nun und spürte eine Veränderung im Klang. Doch dies reichte noch nicht aus. Die Worte selbst mussten neu sein, dachte er, genau wie die Stimme. Anstelle von »Sprich« entwarf er daher ein neues Lied, ein Lied über das Wertvollste, das er auf dieser Welt kannte, nämlich den kleinen Ash. Ein Lied über ein neues Leben. Es war kein Lied von der Art wie die Lieder seines Vaters. Es erzählte keine Geschichte, wies keine Sätze auf. Doch er legte alle Worte über das Leben und die Liebe hinein, die er kannte, aus den drei Sprachen, welche die Geister untereinander benutzten; die Sprache des
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