Die Hoehle der Traenen
teilen, indem wir die Nase aus den Angelegenheiten des anderen heraushielten. Also zuckte ich die Achseln, obwohl ich später im Bett darüber grübelte, während ihre Hand wie immer auf meiner Brust ruhte.
Dann fiel unseren Kindern immer öfter etwas auf. Wir haben acht, einige davon sind erwachsen, andere halb erwachsen, und einige rennen immer noch mit nackten Beinen herum. Zwei sind verheiratet, der älteste Sohn Wyst jedoch nicht, und er war derjenige, der etwas zu sagen wagte.
»Was ist, Mama?«, fragte er eines Tages, als sie den Ästen eines Pflaumenbaums zulächelte, obwohl die Blütenfülle längst verblichen war und die Früchte noch nicht angeschwollen waren.
»Deswegen«, erwiderte Eaba und winkte mit der Hand zum Himmel, als wäre es offenkundig. Doch als wir hinaufschauten, sahen wir nichts.
Sie holte die Wäsche aus den Rosmarinbüschen und ging hinein, und Wyst und ich guckten einander an und zuckten dann mit den Schultern. Frauen!, dachten wir wahrscheinlich beide.
Aber es nagte an mir, und am gleichen Abend fragte ich sie im Bett: »Was hast du denn im Pflaumenbaum gesehen, Liebste?«
Sie lachte mich aus. »Komm mir nicht auf diese Art, Mann«, antwortete sie, als hätte ich sie hereinlegen wollen. »Als hättest du es nicht selbst gesehen!«
»Ich habe gar nichts außer dem Baum gesehen«, widersprach ich.
»Nichts?«, entgegnete sie nicht wirklich überzeugt und richtete sich zum Schlafen ein.
Das erschütterte mich. Was hatte sie so deutlich gesehen, das weder Wyst noch ich sehen konnten? Ich fragte mich, ob es vielleicht doch damit etwas zu tun hatte, dass sie eine Frau war. Konnten sie Dinge sehen, die wir nicht sehen konnten? Nach dreißig Jahren mit Eaba hätte mich in Bezug auf Frauen nichts mehr überraschen können.
Als sie das nächste Mal diese Miene aufsetzte, kämmte sie gerade die Winterwolle aus ihrer Lieblingszicke draußen im Ziegenstall, und ich fragte sie unverblümt: »Was schaust du an? Und sag mir jetzt nicht ›das da‹! Ich sehe nämlich gar nichts hier außer dem Stall und den Ziegen.«
Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht, und sie wirkte
besorgt. Erneut spähte sie hinauf zu den Dachsparren – sie schaute immer nach oben, nie nach unten, wenn sie diesen Gesichtsausdruck hatte.
»Du siehst es nicht?«, fragte sie langsam.
Ich schüttelte den Kopf. Sie legte die Stirn derart in Falten, dass ihre Augen fast verschwanden. Dann schaute sie wieder auf.
»Warum kann er dich nicht sehen?«, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite, als lausche sie gerade einer Antwort. Wie immer diese ausfiel, Eaba war nicht darüber erfreut. Sie schob die Lippen auf diese starrköpfige Art vor, die ich so gut an ihr kannte, und dann murmelte sie: »Das ist keine Antwort!«
Mit nach wie vor gerunzelter Stirn wandte sie sich mir zu und fragte: »Wahrscheinlich hast du das jetzt auch nicht gehört , nicht wahr?«
»Nein. Ich habe gar nichts gehört.«
Sie seufzte. »Es sagt, dass du nicht die richtige Art Augen hast, aber was ist das für eine Antwort? Letzte Woche hat es mir gesagt, ich hätte selbst nur ganz knapp die richtige Art. Das hat etwas mit dem Schleier vor meinen Augen zu tun.«
Ach so, dachte ich. Tatsächlich hatten sich ihre Augen in der letzten Zeit verändert, hatten sich jene milchigen Schleier gebildet, die ihre Mutter und Großmutter vor ihr hatten erblinden lassen. Sie hatte sich ihrem Schicksal ergeben und damit begonnen, das Haus durch Berührungen genauso zu erfahren wie durch Sehen. Vielleicht war dieses Etwas, was immer es war, bloß eine Art Einbildung, weil ihre Augen nicht richtig funktionierten.
Aber sie hörte dieses Etwas ja auch.
»Was ist es? «, wollte ich wissen.
Sie machte den Mund auf, so als wolle sie es erklären,
schloss ihn dann aber wieder. Sie spähte hinauf und schüttelte dann den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll«, sagte sie und tippte dabei frustriert mit dem Wollkamm auf ihr Knie. »Ich kann nicht die richtigen Worte finden …«
»Versuch einfach, mir eine Vorstellung zu vermitteln.«
Sie hielt inne, dachte darüber nach, zuckte dann jedoch hilflos mit den Achseln.
»Ist es lebendig?«, fragte ich.
»O ja!«, sagte sie.
»Ist es menschlich?«
»O nein!«
»Ein Geist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht so wie die Wassergeister oder die Windgeister … Ich weiß nicht recht, wie es aussieht.«
»Nun, welche Farbe hat es denn?«
Sie wurde mucksmäuschenstill, als begreife sie etwas zum
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